Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
eine Feder im Tempel, aber sie ist im Lauf der Jahre fast zerfallen und so brüchig, dass sie nicht mehr der Luft ausgesetzt wird, sie würde sofort vermodern. Diese hier werde ich behalten. Sie ist eine Botschaft für Ihre Zukunft: dass Sie es sind, der den Drei Ländern Friede und Gerechtigkeit bringt.«
Leise fügte er hinzu: »Aber die weiÃe Feder ist rot befleckt. Sie werden im Namen der Gerechtigkeit den Tod finden.«
»Den Tod?« Shigeru konnte sich das nicht vorstellen; noch nie hatte er sich lebendiger gefühlt.
Matsuda lachte. »In Ihrem Alter denken wir alle, wir leben für immer. Aber jeder von uns hat nur einen Tod. Wir sollten darauf achten, dass er zählt. Sorgen Sie dafür, dass Sie zum rechten Zeitpunkt sterben und Ihr Tod wichtig ist. Wir alle hoffen, dass unser Leben einen Sinn hat; aber dass auch unser Tod bedeutsam ist, stellt einen seltenen Segen dar. Schätzen Sie den Wert Ihres Lebens; klammern Sie sich nicht daran, aber werfen Sie es nicht leichtfertig weg.«
»Habe ich diese Wahl?«, überlegte Shigeru laut.
»Der Krieger muss sich diese Wahl schaffen«, antwortete Matsuda. »In jedem Moment muss er sich der Pfade bewusst sein, die zum Leben oder zum Tod führen â zum eigenen, zu dem seiner Anhänger, seiner Familie, seiner Feinde. Er muss mit klarem Geist und ungetrübter Urteilskraft entscheiden, welchen Weg jeder zu nehmen hat. Ihre Zeit hier dient auch dazu, diese Klarheit zu entwickeln.« Er hielt einen Moment inne, als wollte er seinen Worten Nachdruck verleihen. Als er fortfuhr, geschah es mit leichterem Ton. »Jetzt müssen wir uns wieder auf den Weg machen, sonst verbringen wir die Nacht im Wald.«
Shigeru hob die Holzstangen und die Bündel auf und nahm beides auf die Schultern. Die Ungeduld und Aufsässigkeit des vergangenen Tages waren verschwunden. Er bedachte Matsudas Worte, während er hinter dem Lehrer den steilen Bergpfad hinaufging. Er würde danach streben, sie zu befolgen und seinen Tod selbst zu wählen, er würde stets danach streben, sich des rechten Wegs bewusst zu sein â aber er betete darum, noch viele Jahre vor sich zu haben.
KAPITEL 10Â
Die Sonne war hinter die Berggipfel gesunken und blaue Dämmerung fiel herab, als sie zu einer Hütte an einer Weggabelung kamen. Sie war klein, mit Strohdach, an einer Seite schützte ein Anbau einen Stapel ordentlich aufgehäufter Holzscheite. Die Hütte hatte eine schwere Holztür und keine Zwischenwände. Die beiden Wanderer nahmen sich Zeit, sich die Hände zu waschen und aus einer nahen Quelle zu trinken. Ein Tier flitzte unter die Veranda, als sie näher kamen. Matsuda hob die Tür an, schob sie auf und schaute hinein. Er lachte vor sich hin. »Sie hat den Winter gut überstanden. Seit letztem Sommer ist niemand hier gewesen.«
»Niemand auÃer Ratten.« Shigeru schaute auf die Köttel am Boden. Er hatte die Bündel auf die Holzstufe gelegt, die kaum eine Veranda zu nennen war, obwohl sie diesem Zweck diente. Matsuda kniete sich daneben, öffnete eins der Bündel und holte eine Handvoll Holzspäne heraus. Er schüttete die glühenden Kohlen aus dem Eisentopf in eine kleine Kohlenpfanne, fügte die Späne hinzu und blies behutsam darauf. Als sie zu rauchen begannen, stand er wieder auf und griff nach einem Besen.
»Ich mache das«, sagte Shigeru.
»Wir teilen uns in diese einfachen Pflichten. Gehen Sie auf die Suche nach Anmachholz.«
Moskitos umschwirrten Shigerus Kopf, als er in der zunehmenden Finsternis nach trockenem Holz suchte. Der Wald bestand hier aus Buchen und Eichen, am Teich, in den die Quelle floss, stand eine Erle. Hier und da wuchsen weiÃe Berglilien und Aronstab, und beim Bach leuchteten Sumpfdotterblumen. Die ersten Sterne schienen durch das dichte Laub.
Shigeru atmete tief aus.
Die abgebrochenen Ãste auf dem Boden waren noch nass nach dem Regen, aber an den unteren Ãsten und Stämmen der Bäume war genug trockenes Holz, um einen ganzen Armvoll zu sammeln. Er roch die Kiefernspäne aus der Hütte, ein freundlicher, heimatlicher Duft in dem einsamen Wald. Als er zurückkam, rief ein Frosch vom Teich. Ein anderer antwortete.
Er brach das Holz in kleine Stücke und trug sie hinein. Der Boden war sauber, Matsuda hatte eine kleine Lampe angezündet und das dünne Bettzeug aus Hanf und die gesteppten Decken ausgebreitet, um
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