Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
der Pfeilmacher Pfeile schnitzt, wie der Pferdezüchter Pferde zureitet, so musst du deine abschweifenden Gedanken lenken und beherrschen.
Doch die Pferde lieÃen ihn an Kiyoshige denken und an das schwarze Fohlen, das er zurückgelassen hatte. Er glaubte durch die Augen des Pferdes zu sehen, meinte das Sommergras auf den überfluteten Wiesen zu schmecken; er sehnte sich danach, das Tier unter sich zu fühlen, die federnde, kontrollierte Spannung zu spüren, die Erregung in der Biegung von Hals und Rücken, das Vergnügen, ein so viel gröÃeres und kräftigeres Geschöpf, als er es war, zu beherrschen. Und die Pfeile: Er spürte, wie seine Hände ihre meditative Haltung aufgaben und am liebsten nach dem Bogen, dem Zügel, dem Schwert gegriffen hätten.
Er atmete ein und aus.
Was wirst du je lernen, wenn du dich nicht selbst beruhigen kannst?
Die Worte drangen ihm ins Ohr: Er wusste, dass Matsuda sie gesprochen haben musste, doch sie schienenvon anderswo herzukommen, von einer Stelle der Wahrheit in ihm selbst. Er sagte sie leise vor sich hin. Wenn du dich nicht selbst beruhigen kannst. Sie wurden zu seinem Atem. Ein paar kurze Augenblicke war sein Geist leer. Doch fast sofort kehrten die lärmenden Gedanken zurück. Das ist es also, was mein Lehrer meinte! Ich habe es geschafft. Jetzt kann ich vielleicht anfangen, das Schwert zu gebrauchen.
Ungeduld nagte mit ihren Ameisenbissen an ihm. Wie zur Antwort beschwerte sich sein Körper über die Unbequemlichkeit. Die Beine waren verkrampft, der Magen leer, die Kehle trocken. Doch Matsuda, mehr als dreimal so alt, rührte sich nicht, atmete nur ruhig ein und aus.
Ich werde sein wie er , dachte Shigeru. Das werde ich. Er versuchte den Atemrhythmus des Meisters zu erkennen und ihm zu folgen. Er beobachtete, wie er selbst atmete. Ein. Aus.
Vögel riefen aus den Bäumen. Eine Drossel begann ein Lied. Er öffnete kurz die Augen und sah, dass es heller war. Er konnte den Umriss der Hütte erkennen, die Bäume hinter Matsuda, der auf der Holzstufe über ihm saÃ. Wider Willen musste er an die Morgenmahlzeit denken, dabei füllte sich sein Mund plötzlich mit Speichel. In Hagi würde es in diesem Moment in den Küchen lebendig, die Feuer würden geschürt, die Suppen aufgesetzt, die Köche würden Gemüse schneiden, die Dienstmädchen Tee bereiten: Das ganze Heer von Bediensteten, das seine Art von Leben ermöglichte, wäre wach und flink und leise bei der Arbeit. Immer hatte er ihnen befehlen können; selbst in Zeiten der Hungersnot, nach Naturkatastrophen wie Taifunen, Dürren oder Erdbeben, wenn viele im Mittleren Land verhungerten, war seine Tafel reich gedeckt. Jetzt hatte er das alles aufgegeben, er war wie einer von ihnen geworden: ganz vom Willen eines anderen abhängig. Er vertraute Matsuda. Er glaubte, der Alte könne ihn viele Dinge lehren, die er wissen musste. Er unterwarf seinen widerstrebenden Willen dem des Meisters, lieà die Gedanken an Nahrung in seinen Kopf strömen und wieder hinaus, atmete ein, atmete aus. Sein Geist wurde still wie ein junges Pferd, das schlieÃlich einsieht, dass all sein Bocken und Bäumen den Reiter nicht aus dem Sattel wirft. Er erkannte, dass alle Begierden, alle Sehnsüchte entweder erfüllt werden oder sich auflösen. Er begriff, was der Meister mit Wahl meinte. Mit der Stille kam ein Gefühl für seinen Geist, der wie eine Welle inmitten des Meeres war; Ruhe überflutete ihn, begleitet von Mitgefühl für alle Geschöpfe und für sich selbst, Verehrung und Liebe für Matsuda.
Plötzlich spürte er Wärme, die Sonne stieg über die hohen Gipfel rundum. Shigeru öffnete unabsichtlich die Augen und sah, dass Matsuda ihn anschaute.
»Schön«, sagte der Alte. »Jetzt werden wir essen.«
Shigeru stand auf, und ohne auf seine verkrampften Beine zu achten, ging er in die Hütte. Er holte den Topf und füllte ihn an der Quelle mit Wasser, holte Holz und schürte das Feuer. Als der Rauch sich aufgelöst hatte â wie Begierden, dachte er â und die Flamme kräftig und klar brannte, setzte er Wasser zum Kochen auf. Er nahm das Bettzeug und breitete es in der Sonne aus, wobei er versuchte, Matsudas Geschick und seine sparsamen Bewegungen nachzuahmen. Was er in der stundenlangen Meditation erfahren hatte, bestimmte seine Handlungen, gab ihm selbst Zielstrebigkeit und
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