Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
Konzentration.
Matsuda schlüpfte in seine Sandalen und winkte Shigeru. »Schauen wir, was der Wald heute Morgen für uns hat!«
Er nahm einen kleinen Korb und ein Grabwerkzeug, eine scharfe Klinge in einem gebogenen Holzgriff, und sie gingen den Pfad hinauf nach Westen, die Sonne schien warm auf ihre Rücken. Der Pfad bog eine Weile um groÃe Felsen und war steil, doch allmählich wurde der Boden wieder eben und eine Lichtung öffnete sich vor ihnen. Hier wuchsen Zedern, Zypressen und Fichten, doch am Rande der Lichtung drangen Farne durch den Waldboden, ihre Köpfe waren zu schneckenartigen Spiralen gerollt. Matsuda zeigte Shigeru, wie die zartesten zu schneiden waren; dann gingen sie durch den Wald, bis sie an einen kleinen Bergteich kamen. Er war voller Vögel, Reiher, Enten und Krickenten, die beim Kommen der beiden mit schrillen Schreien davonflogen. Am Rand wuchsen wilder Lotos und Kletten. Matsuda zog einige Lotospflanzen wegen ihrer saftigen Wurzeln aus dem Wasser und grub die Kletten aus dem weichen Boden. Ihre Wurzeln waren lang und dünn, das Fleisch weià unter der dunklen, faserigen Haut.
Es war zu früh im Jahr für Pilze oder SüÃkartoffeln, aber auf dem Rückweg fanden sie frische Sauerampferblätter und das neue grüne Laub der WeiÃdornbüsche. Matsuda aà davon im Gehen und Shigeru tat es ihm nach. Der Geschmack erinnerte ihn an seine Kindheit.
Die Kletten weichten sie nach dem Schälen ein, dochaus ihrer übrigen Ernte, in Suppe gekocht, bestand ihre Morgenmahlzeit. Matsuda schüttete trockene Reiskörner in den Suppenrest und stellte ihn zum Quellen zur Seite. Dann sagte er, Shigeru solle die Ãbungen zum Aufwärmen machen, die er im Tempel gelernt hatte. »Mit einem leeren Geist«, fügte er hinzu.
Das Essen und die Sonnenwärme hatten den Schlafdämon näher gebracht. Shigeru bemühte sich, ihn zu verscheuchen, während er die gewohnten Bewegungen machte, dabei an die anderen Jungen im Tempel dachte und sich fragte, ob sie in diesem Moment die gleichen Ãbungen mit weitaus leererem Geist durchführten. Doch er erkannte, dass etwas an den Ãbungen mit der Meditation zusammenwirkte, sie vertiefte. Die Ãbungen der Geisteskräfte hatten ihm gezeigt, wie die Gedanken zu beherrschen waren, der Gebrauch der Körpermuskeln brachte jetzt die Beherrschung von Geist und Körper. Die Müdigkeit verschwand, an ihrer Stelle breiteten sich Erwartung und eine aufmerksame Ruhe aus.
Er hatte sich in dem gemäÃigten Tempo bewegt, das man ihm im Tempel beigebracht hatte; jede Ãbung stellte sich fast unbemerkt ein, während eine Bewegung der anderen folgte. Er merkte, dass hier im einsamen Wald die Ungeduld verschwand, die er im Tempel gespürt hatte. Er hatte geglaubt, zuvor eifrig geübt zu haben, aber jetzt konnte er sehen, woran es ihm gefehlt hatte, wie geteilt und schwach seine Aufmerksamkeit gewesen war, wie sein Hochmut ihn behindert und geblendet hatte. Er beobachtete, wie sein Atem ein- und ausströmte, während er jede Ãbung ausführte, und spürte, wie die Sonne, die Luft, der Boden unter seinen FüÃendem Atem zu folgen und durch ihn zu flieÃen schienen. Die Welt rundum war bereit, ihre Kraft mit ihm zu teilen, ihre Energie, Leichtigkeit und Beständigkeit. Er hatte einfach nur ihre Gaben anzunehmen und sie zu nutzen.
»Gut«, sagte Matsuda. »Die Lehrer im Tempel fürchteten, es fehle Ihnen an Konzentration â die gröÃte Schwäche Ihres Vaters, fürchte ich â, aber ich glaube, wir werden beweisen, dass sie sich irrten. Binden Sie Ihr Gewand hoch â wir werden uns jetzt ein wenig schneller bewegen.«
»Soll ich die Stangen holen?«, fragte Shigeru, doch Matsuda hielt die Hand hoch.
»Wenn Sie für die Stangen bereit sind, werde ich Ihnen sagen, Sie sollen sie bringen.«
Der Alte stand vor Shigeru, er hatte das Gewand hochgebunden und stemmte die FüÃe auf den Boden.
»Schauen Sie gut zu.«
Die Bewegung war so schnell, dass Shigeru ihr kaum folgen konnte. Er sah die Gestalt des Alten, doch durch die magere Figur, die sehnigen Glieder blitzte etwas Altersloses, eine Kraft, die seinen Lehrer verwandelte. Shigeru stand mit offenem Mund da.
Matsuda sah den Ausdruck auf seinem Gesicht und lachte. »Es ist nichts Magisches, kein Zauber oder etwas Ãhnliches dabei. Jeder kann es, Sie müssen sich nur
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