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Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels

Titel: Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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Matsuda sein Lehrer war, ein berühmter Krieger. Er schob sogar seinen übermächtigen Wunsch zur Seite, seinen Gegner zu überlisten, zu übertreffen. Er sah nur die Bewegungen des Angriffs und seine eigene Reaktion aus Verteidigung und Gegenangriff.
    Am späten Nachmittag erkundete er meist die Bergpfade und suchte essbare Pflanzen. Manchmal glaubte er Menschen zu hören oder spürte, wie er beobachtet wurde, und einmal entdeckte er Spuren, die zeigten, dass jemand Eisenhut, Aronstab und Bitterkräuter ausgegraben hatte. Doch er sah niemanden im Wald, obwohl immer wieder ein Bauer oder eine Frau aus dem Weiler mit Essensgaben kam. Wenn sie ihnen an der Hütte begegneten, gab Matsuda ihnen seinen Segen und lud sie ein, von der Quelle zu trinken, während Shigeru sie nach ihren Höfen und Ernten, ihren Wettervoraussagen, Volksmärchen und Heilmitteln befragte. Zuerst schwiegen sie scheu, doch im Lauf der Wochen wurden sie ihm gegenüber offener.
    Matsuda neckte ihn damit und sagte, er müsse in einem früheren Leben Bauer gewesen sein.
    Â»Wenn wir nur Krieger wären, würden wir alle verhungern«, erwiderte Shigeru. »Wir sollten nie vergessen, wer uns ernährt.«
    Â»Schon weiser als die meisten Krieger in Hagi«, sagte Matsuda leise, wie zu sich selbst.
    Â»Wenn es Krieg gibt, muss ich Krieger sein«, sagte Shigeru leichthin. »Aber wenn der Frieden andauert, werde ich Bauer und niemand im ganzen Mittleren Land wird hungern.«
    Die Sommersonnenwende kam und danach die Tage des Großen Festes, doch Matsuda gab keinen Hinweis, dass sie zum Tempel zurückkehren würden. Ein paar Tage vor dem Totenfest kamen zwei Mönche aus Terayama und brachten Nahrung, Säcke mit Reis und getrocknetem Gemüse, ein Fass mit eingelegten Früchten und eins mit gesalzenem Fisch. Es schien wie ein Fest nach der mageren Kost der vergangenen Wochen. Die Mönche brachten auch Nachrichten aus Hagi über die Gesundheit der Familie Otori und einen Brief von Takeshi.
    Shigeru las ihn begierig. »Er fragt, ob ich Kobolde getroffen habe. Er ist von Karasu, meinem Rappen, gestürzt und hat einen Tag lang alles doppelt gesehen.« Die alte Angst stieg wieder in ihm auf, er schluckte und verdrängte sie energisch. »Ich habe ihm gesagt, er soll den Rappen nicht reiten, er ist noch kaum zugeritten und zu kräftig für ein Kind. Ich hoffe, Takeshi ist nicht schwerer verletzt, als er aushalten kann.«
    Sie hatten beide kein Schreibzeug mitgebracht, deshalb konnte er den Brief nicht beantworten, doch die Mönche versprachen, Boten nach Hagi zu schicken und um weitere Nachrichten zu bitten. Beim Abendessen erzählten sie ein wenig von Ereignissen im Tempel, vom körperlichen und geistigen Wohlbefinden des Abts, vom Fortschritt der Novizen. Die beiden Besucher blieben über Nacht und meditierten still mit Matsuda und Shigeru. Die Hütte war zu klein für vier, deshalb schlief Shigeru draußen unter den Sternen.
    Es war eine schwüle Nacht und er schlief leicht, immer wieder vom Rufen der Eule, dem Quaken der Frösche oder summenden Moskitos geweckt; einmal heulte ein Wolf in der Ferne und gerade vor dem Morgengrauen tappte etwas auf weichen Sohlen an seinem Kopf vorbei. Er öffnete die Augen und sah einen Tanukihund, der ihn anstarrte. Als er sich bewegte, schlüpfte das Tier schnell unter die Hütte.
    Da stand er auf und sah, dass die drei Männer schon wach waren – bestimmt seit einiger Zeit, denn sie meditierten bereits. Er setzte sich zu ihnen und zog Kraft aus der schwindenden Nacht und dem zunehmenden Tageslicht. Er dachte an Takeshi und betete, dass sein Bruder sich wieder ganz erholt habe, obwohl er sich fragte, ob ein Gebet für die Vergangenheit Sinn ergab. Dann brachte er seine Gedanken zur Ruhe und konzentrierte sich auf seinen Atem.
    Als es ganz hell war, holte Shigeru Wasser, blies sanft auf die Glut des Feuers, schürte es und bereitete das Mahl, wie er es jetzt täglich für Matsuda tat. In seinem einfachen Hanfgewand, dessen Saum er in den Gürtel gesteckt hatte, sah Shigeru nicht anders aus als die Mönche, abgesehen von seinem Haar. Er hatte das Gefühl, er könnte einer von ihnen sein, der jüngste, deshalb die Dienerrolle. Die Besucher zeigten kaum Anzeichen von Erstaunen darüber, dass der Erbe des Clans sie bescheiden bediente, wenngleich der jüngere ihm überschwänglich dankte und

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