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Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels

Titel: Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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der ältere rasch zu Matsuda hinüberschaute, der mit einem leichten Lächeln antwortete. Diebeiden Mönche brachen gleich danach auf, sie wollten keine Zeit verlieren und gingen schnell den Pfad hinab. Es war bereits sehr heiß und Donner grollte in der Ferne, wo schwarze Wolken sich über den hintersten Bergkämmen ballten. Der Himmel über ihnen war tiefviolettblau, das Sonnenlicht bronzefarben getönt.
    Â»Beginnen Sie jetzt mit Ihren Übungen«, sagte Matsuda. »Das Unwetter kommt noch vor Mittag.«
    Shigeru hatte geglaubt, er sei müde, doch die Schläfrigkeit verschwand, als er die vertraute Routine durchlief. Matsuda meditierte weiter, aber nach etwa einer Stunde stand er auf, steckte sein Gewand hoch und griff nach den Stangen. Shigeru verbeugte sich vor seinem Lehrer und nahm eine der Stangen, wobei er sich wie üblich über ihr ausgeglichenes Gewicht und ihre Glätte freute.
    Der Donner grollte wieder, diesmal näher. Die Luft war mit Elektrizität geladen, als würde sie gleich blitzen.
    In den vorausgegangenen Wochen hatte Matsuda täglich aggressiver angegriffen. Er beherrschte die Stange so vollkommen, dass Shigeru nicht fürchtete, verletzt zu werden, doch er hatte genug leichte Schläge und Prellungen abbekommen, um jeden Kampf ernst zu nehmen. An diesem Tag schien sein Lehrer noch heftiger anzugreifen. Zweimal trieb die Gewalt seiner Attacken Shigeru bis zum Rand des Übungsplatzes und vermittelte ihm das Gefühl, sein Meister erwarte mehr von ihm und bringe ihn bis an seine Grenzen, um zu einer noch nicht erwachten Kraft vorzustoßen. In ihm wuchs der Zorn: Ein Schlag auf die Halsseite schmerzte, vom grellen Sonnenlicht bekam er Kopfweh, und Schweiß rann ihm von der Stirn und brannte in den Augen.
    Der dritte Angriff war noch heftiger. Bis jetzt hatte Shigeru geglaubt, Matsuda werde ihn nicht verletzen, aber plötzlich wirkte die Feindseligkeit des Alten echt. Das erschütterte Shigeru. Sein Vertrauen zu seinem Lehrer schwankte, begann sich aufzulösen; vorausgegangene kleine Zweifel kamen dazu. Er will mich töten, dachte Shigeru. Er hat gesagt, er würde nach Inuyama gehen, er ist in Kontakt mit Iida. Er wird mich wie zufällig töten und sich mit den Verrätern Kitano und Noguchi verbünden. Die Otori werden besiegt, das Mittlere Land verloren sein.
    Eine Wut, wie sie jetzt in ihm hochkam, hatte er nie zuvor erlebt, sie war unglaublich stark und verdrängte alle anderen Gedanken. Und in die Leere floss eine Kraft, von der er nicht gewusst hatte, dass er über sie verfügte – bis zu dem Moment, in dem er erkannte, dass er um sein Leben kämpfte und um alles, was ihm wichtig war.
    Alle Verehrung für Matsuda schwand, jeder Respekt, den er für den Älteren empfunden hatte, verging. Zielbewusst griff er an. Matsuda parierte den ersten Schlag, doch dessen Gewalt brachte ihn leicht aus dem Gleichgewicht. Er schlug eine Finte, um den Stand wiederzugewinnen, doch in diesem Augenblick umkreiste Shigeru ihn, sodass der Lehrer am Hang unter ihm stand und die Sonne gegen sich hatte. Der Jüngere dachte nur an die Lebenskraft und wie er sie gebrauchen könnte. Mit aller Stärke und Schnelligkeit schlug er auf eine ungeschützte Stelle und traf Matsuda seitlich am Kopf mit einem Schlag, der so laut wie Donner klang.
    Der Alte stöhnte unfreiwillig und schwankte. Entsetzt über das, was er getan hatte, ließ Shigeru seine Stange fallen. »Meister!«
    Matsuda sagte: »Es ist alles in Ordnung. Keine Sorge.« Dann wurde er blass. Schweiß stand auf seiner Stirn. »Ich setze mich besser.«
    Shigeru half ihm zur Veranda und an einen Platz im Schatten, holte Decken, auf die er sich legen konnte, und brachte Wasser zum Kühlen der Prellung, die schon anschwoll und schwarz wurde.
    Â»Ich sollte nicht schlafen«, murmelte Matsuda. »Lass mich nicht einschlafen«, und sofort schloss er die Augen und fing an zu schnarchen.
    Shigeru schüttelte ihn. »Meister, wachen Sie auf! Schlafen Sie nicht ein!« Aber er konnte ihn nicht wecken.
    Er wird sterben! Ich habe ihn getötet! Sein erster Gedanke war, Hilfe zu holen. Die Mönche waren zwar seit mehr als einer Stunde fort – aber vielleicht, wenn er rannte … und rief … könnten sie ihn hören und würden zurückkommen. Sie würden wissen, was zu tun war. Aber konnte er Matsuda hier alleinlassen? Er

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