Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
half dem Alten, sich aufzusetzen und zu trinken. Matsuda sagte nichts, tätschelte aber Shigerus Hand, als wollte er ihn beruhigen. Dann legte er sich wieder hin. Die Kräuter wirkten schnell. Der Alte schlief tief und ruhig bis zum Morgengrauen.
Shigeru döste ein wenig, doch meistens blieb er wach und dachte über die ungewöhnlichen Ereignisse des Tages nach. Jetzt, wo er ruhiger war, erkannte er nur zu klar, wer der Mann war: Er konnte nur vom Stamm sein. Er war verschwunden und wieder erschienen, genau wie sein Vater es von der Frau beschrieben hatte, die seine Geliebte gewesen war. Was für eine erstaunliche Fähigkeit, wie nützlich konnte sie sein! Kein Wunder, dass Kriegsherren wie die Iidafamilie solche Männer als Spione einsetzten. Wie verletzlich ihm sein eigener Clan vorkam! Welche Verteidigung konnte es gegen solche Leute geben? Die Begegnung hatte eine starke Neugier in ihm geweckt, mehr über sie zu erfahren, zu entdecken, wie er sich und seine Leute gegen den Stamm verteidigen könnte â möglicherweise indem er sie selbst einsetzte.
Kaum erlaubte er sich, über das ungewöhnlichste Ereignis von allen nachzudenken: dass er seinen Lehrer im Kampf besiegt, dass er Matsuda Shingen bewusstlos geschlagen hatte. Das kam ihm noch ungewöhnlicher vor als der Mann, der sich unsichtbar machen konnte.
Die Hitze lieà ein wenig nach, eine leichte Brise kam auf und Vögel begrüÃten den Morgen. Shigeru saà mit gekreuzten Beinen da und begann seine morgendliche Meditation. Als er die Augen öffnete, war es hell und Matsuda war wach.
»Ich muss pinkeln«, sagte der Alte. »Helfen Sie mir hinaus.«
Er ging ein bisschen unsicher, schien sich aber sonst erholt zu haben. Nachdem er sich erleichtert hatte, ging er zur Quelle und spülte sich den Mund aus.
»Tut Ihnen der Kopf weh?« Shigeru half ihm zurück zur Hütte.
»Jetzt nicht mehr sehr. Was immer Sie mir gestern Abend gegeben haben, hat geholfen.«
»Es tut mir so leid«, fing Shigeru an.
Matsuda sagte: »Es braucht Ihnen nichts leidzutun. Seien Sie stolz auf sich. Das war eine gute Leistung. Niemand hat mir seit langem so etwas zugefügt. Natürlich bin ich nicht mehr so jung, wie ich einmal war.«
»Es war Zufall«, sagte Shigeru.
»Ich glaube nicht. Aber wer war hier bei Ihnen?«
»Ich habe einen Mann im Wald getroffen. Ich bin den Mönchen nachgegangen und falsch abgebogen ⦠Es war ein schlimmes Unwetter â¦Â«
»Mit anderen Worten, Sie gerieten in Panik.«
»Ich dachte, ich hätte Sie getötet!«
»Wenn Sie das getan hätten, wäre es mir nur recht geschehen.« Matsuda lachte. »Kein Grund zur Panik. Wer war es, einer der Dorfbewohner? Ich muss die Bestandteile dieses Tees wissen.«
»Ich hab ihn noch nie zuvor gesehen. Ich war noch nicht einmal sicher, ob er ein Mensch war. Er kam mir mehr wie ein Geist vor. Hinterher wurde mir dann klar, dass er vom Stamm sein muss.«
»Um Himmels willen«, sagte Matsuda. »Sie gaben mir Tee, den einer vom Stamm gemacht hat? Ich habe Glück, dass ich noch lebe.«
Shigeru dachte an Gift, an die Spuren, die er selbst gesehen hatte und die von jemandem stammten, der Eisenhut und Aronstab gesucht hatte, vielleicht dieser Mann oder einer wie er.
»Ich bin ein Dummkopf«, sagte er. »Aus irgendeinem Grund glaubte ich, ich könnte ihm vertrauen.«
»Sie vertrauen zu schnell«, erwiderte Matsuda. »Dennoch, bei dieser Gelegenheit hat es offenbar nicht geschadet. Dieses Gebräu ist ein sehr wirksamer Schmerztöter. Ich wüsste gern, was darin ist.«
»Er kannte Ihren Namen.«
»Ich will nicht prahlen, aber viele Leute kennen meinen Namen. Beim Stamm bin ich nicht beliebt. Ich habe versucht, sie vom Tempel fernzuhalten. Ich mag keine Spione. Hat er die Unsichtbarkeit gebraucht?«
Shigeru nickte. »Wie wird das gemacht?«
»Es ist ein Trick, eine Art, sich zu bewegen, die Beobachter täuscht. Man kann es nicht lehren â es ist angeboren, wie die meisten ihrer Fähigkeiten. Ãbung verstärkt sie. Nach allem, was ich gehört habe, ist vieles wie Meditation, den Geist leeren und sich konzentrieren. Allerdings benutzt der Stamm Grausamkeit als Lehrmittel, um das Gewissen und das Mitgefühl auszuschalten. Es heiÃt, dass die Familie Iida manche dieser Methoden bei ihren Söhnen einsetzt und dass sie vor
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