Der Clan der Wildkatzen
blitzschnelle Bewegung löste eine automatische Gedankenabfolge im Gehirn des Raubvogels aus und in Erwartung eines Sturzflugs spannte er die Flügel an. » Ziel: Kätzchen«, erfasste sein Verstand. » Gelände: offen, aber voller Versteckmöglichkeiten. Eigenschaften der Beute: jung, unerfahren, unaufmerksam. Hindernisse: Autos, Stufen und Kanten, Ziegelhaufen, Buschwerk. Erfolgswahrscheinlichkeit: 46 Prozent.«
Southpaw spürte den Milan, bevor er ihn sah– einen Augenblick war es kühl, als der Raubvogel die Sonne verdeckte–, und reagierte sofort.
In die Hecke! , dachte er und rannte los, wobei er mit den kurzen Beinen eine überraschende Geschwindigkeit erreichte. Es blieb mehr als genug Zeit und so wagte er noch einen Blick nach oben.
Der Milan stürzte sich rasend schnell nach unten, und trotz der Entfernung schauderte Southpaw, als er die riesigen Krallen sah. Der Raubvogel war Furcht einflößend und doch gleichzeitig wunderschön, wie er sich mit dem braun-goldenen Gefieder vor dem blauen Himmel abzeichnete. Der kleine Kater war wie hypnotisiert.
Und weil er den Blick nicht auf den Boden richtete, rannte er gegen einen weggeworfenen Plastikeimer. Southpaw miaute erschrocken, als ihn die grüne Kante hart in den Bauch traf und ihm die Luft aus den Lungen trieb. Mühsam erhob er sich wieder. Die Hecke, die nur eine Pfotenlänge entfernt gewesen war, schien plötzlich in weite Ferne gerückt zu sein, und die dornigen Wurzeln des Wandelröschens wirkten grimmig und Unheil verkündend. Southpaw wollte rennen, doch er kam nur humpelnd voran. Ihm wurde flau im Magen, als ihm bewusst wurde, wie nah ihm der dunkle, kreisende Punkt am Himmel war. Das Fell am verwundbaren Nacken stellte sich auf, und er zwang sich, die Pfoten schneller zu bewegen, die immer noch von dem Zusammenprall zitterten.
» Erfolgswahrscheinlichkeit: 87 Prozent… 89 Prozent… 91 Prozent.« Tooth war kurz vor seinem Ziel und absolut sicher, seine Beute zu erlegen. Er fixierte den kleinen Kater, spannte die Krallen an und bereitete sich darauf vor, sie dort in den Nacken zu graben, wo das Fell praktischerweise auch noch mit einem weißen Band gezeichnet war. Wenn er richtig traf, würde das Genick sofort brechen, und er konnte mit einem schlaffen Körper in den Krallen sofort wieder in die Luft aufsteigen. Das war einfacher, als sich mit einem zappelnden Opfer abzugeben.
Im Gebüsch raschelte es. Ein Paket aus Muskeln und Fell fuhr auf und stieß Southpaw zur Seite. Katar war schon mitten im Geschehen, ehe das Kätzchen überhaupt begriffen hatte, was eigentlich vor sich ging. Mit einem Pfotenhieb hatte der große Kater Southpaw zur Seite gefegt, hinein in einen vertrockneten, staubigen Laubhaufen neben dem Wandelröschen.
» Erfolgswahrscheinlichkeit: 71 Prozent… 24 Prozent… 9 Prozent… ABBRUCH EMPFOHLEN !«, signalisierte das Gehirn des Milans, und gleichzeitig versuchte Tooth in die Höhe zu ziehen, um Katars messerscharfen Krallen auszuweichen. Von seinem Platz aus konnte Southpaw einen kurzen und doch unvergesslichen Blick auf das starrende gelbe Auge werfen, die schlagenden Flügel und den glänzenden Schnabel nahm er nur verschwommen wahr. Tooth führte ein sauberes Wendemanöver in drei Zügen durch, und binnen Sekunden zog der Raubvogel wieder in Richtung Himmel davon und verschwand in der Ferne, bis nur noch ein Punkt von ihm zu sehen war.
Katar starrte nach oben, bis er sicher war, dass der Milan nicht zurückkehren würde. Dann stupste er Southpaw grob mit dem Kopf an und vergewisserte sich, dass sich der kleine Kater nicht schlimm gestoßen oder gar etwas gebrochen hatte. Als sich Southpaw aufrichtete, zitterte er mit den Schnurrhaaren eine unterwürfige Entschuldigung. Katar ohrfeigte ihn, setzte jedoch die Krallen nicht ein, denn es sollte nur eine symbolische Rüge sein. Zum vierten Mal in dieser Woche musste er das Kätzchen bestrafen. Southpaw schien Schwierigkeiten auf magische Weise anzuziehen.
» Wenn du alt genug bist, allein auf Wanderschaft zu gehen, Southpaw, bist du auch alt genug, um zu wissen, dass man niemals zu Raubtieren aufschaut«, sagte Katar und sah zu, wie sich das Kätzchen Blätter und Ameisen aus dem hellbraunen, mit schokoladenfarbigen Streifen durchsetzten Fell bürstete. » Wo wolltest du überhaupt hin? Solltest du nicht heute mit Miao lernen, wie man Pfoten und Schnurrhaare putzt?«
» Miao war beschäftigt«, erwiderte Southpaw, und das war sogar die Wahrheit. Die Siamkatze war
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