Der Clan der Wildkatzen
Großfüßen auszuweichen und ihnen nicht in die Quere zu kommen. Mara hatte keine Mutter und keine Geschwister aus ihrem Wurf, die ihr beibringen konnten, wie man in der Freiheit auf der Kanalstraße überlebt oder wie man in der Wildnis seine erste Beute erlegt. Seit sie die Augen aufgemacht hat, kennt sie nur die vier Wände der Großfüße. Und außerdem …«
Sie hielt inne und stellte die Ohren auf, und auch die schwarzen Flecken in ihrem Gesicht plusterten sich auf, als sie in der Ferne einen dumpfen Rums hörte. Am Eingang des Schreins schaute sich der Fakir verwirrt um, blieb aber, wo er war, als er keinen unmittelbaren Grund zur Beunruhigung entdeckte.
» Das hat sich angehört, als wäre es aus dem Verrammelten Haus gekommen«, sagte Katar, und seine Nasenflügel flatterten, als er durch den Regen und den Wind sah und nach genaueren Hinweisen suchte. Die Katzen waren alarmiert, ihre Ohren drehten sich in Richtung des Verrammelten Hauses. Dort herrschte jedoch Stille und nach einigen Augenblicken glätteten sich Miaos und Katars Felle wieder.
» Außerdem hat Tigris erst viel später erfahren, dass sie ein Sender ist, erst als sie älter war«, setzte Miao ihren Satz fort. Beraal zuckte interessiert mit der Nase. » Es passierte, nachdem sie ihren ersten Sommer und Monsunregen erlebt hatte. Und selbst dann sendete sie zuerst schwach, nur blasse Bilder, die sich kaum mit dem vergleichen lassen, was deine junge Schülerin zustande bringt. Es vergingen drei Jahreszeiten, ehe sie das lernte, was Mara uns in drei Monden gezeigt hat. Und in dieser Zeit hat Tigris sich verändert.« Das Blau von Miaos Augen wurde tiefer, während sie sich erinnerte.
» War Tigris noch der Sender, als ich geboren wurde?«, fragte Katar. Der Schwanz des Katers zuckte unsicher. Er konnte sich überhaupt nicht an Tigris erinnern, und er hatte das Gefühl, sich an ein Treffen mit dem Sender erinnern zu müssen, selbst wenn er zu dem Zeitpunkt noch ein Jungkater gewesen war.
» Als du geboren wurdest, hatte sie sich schon von uns anderen Wilden Katzen zurückgezogen«, antwortete Miao, und über ihre Schnurrhaare strahlte sie Traurigkeit aus. » Nachdem Tigris zu senden gelernt hatte, verbrachte sie die meiste Zeit im Hof eines Großfußhauses– bei einem der großen alten Gebäude an der Kanalstraße, das jetzt leer steht. Sie war nicht unfreundlich, aber sie hat mehr und mehr Zeit in ihrer eigenen Welt verbracht. Und sie hatte immer weniger Zeit für uns. Außerdem wurdest du erst geboren, nachdem im Viertel wieder Ruhe eingekehrt war.«
» Ruhe eingekehrt?«, fragte Beraal überrascht. In Nizamuddin herrschte ständig der Lärm der Großfüße, der sich mit dem unverdrossenen Plappern der Drosslinge und den Raubzügen der Milane mischte. Und dann waren da noch die Kanalschweine, die immer wieder ihre Kriege austrugen.
Miao ließ ihre Schnurrhaare in Regen und Wind zittern. » Streckt eure Schnurrhaare aus«, sagte sie. » Und sagt mir, was ihr spürst.«
Die drei Katzen zogen die Schnurrhaare hoch, und Katar spürte, wie seine Augenbrauen kribbelten, als sie sich miteinander verbanden. Im Netz war es still, es gab keine Unruhe und keine Katastrophenmeldungen. Keine der Katzen, die sie befragten, hatte Großartiges zu berichten. Auf der Kanalstraße hatte Abol Schutz unter einem geparkten Wagen gesucht und er und eines der älteren Kätzchen erzählten sich gegenseitig Geschichten. Die Marktkatzen hockten unter blauen Planen oder hatten sich unter den Ständen im Trockenen zusammengerollt. Dastan, dem der Regen so wie ihnen nichts ausmachte, wartete geduldig beim Metzger auf ein paar Bissen. Die anderen Katzen vom Schrein hatten sich unter dem Stand des Duftölverkäufers verkrochen und genossen die Gerüche von Gras und Rosen.
Katar hob fragend den Schwanz, als sie sich ausklinkten.
» Es ist alles ganz normal«, stellte Miao fest. » Aber es gab eine Zeit, als nur eine Handvoll Wilde Katzen in Nizamuddin wohnten– zwei oder drei Familien. Nicht so viele wie heute. Wir lebten in ständiger Angst vor Hunden und die Großfüße waren in jenen Zeiten sehr unfreundlich. Wir mussten darauf vorbereitet sein, dass sie uns aus unseren Verstecken vertrieben oder Katzen in ihre Lieferwagen sperrten und woandershin verfrachteten, manchmal wurden ganze Familien von den Gerüchen ihrer Kindheit fortgerissen.«
Beraals grüne Augen funkelten, als sie verstand. » Das war, als ihr den Sender gebraucht habt«, sagte sie. » Der Sender
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