Der Club der Gerechten
direkt nach der High-School. Sie hatte sich einen Job als Kellnerin gesucht und angefangen zum Vorsprechen zu gehen, aber sie war über ein paar Sätze nie hinausgekommen. Sie versuchte es immer wieder, immer überzeugt, dass sie im nächsten Jahr endlich ihre Chance bekommen würde. Anfangs hatte es sogar Spaß gemacht – sie hatte Freunde, die auch Schauspieler und Schauspielerinnen werden wollten, und einige hatten tatsächlich Rollen ergattert. Einer spielte jetzt in einer Seifenoper – Tillie sah ihn manchmal, wenn er und seine Freunde von der Show hin und wieder im Park ihren Lunch einnahmen.
Natürlich sprach sie nie mit ihm, und er erkannte sie nicht, und das war gut so.
Die Schwierigkeiten hatten vor dreißig Jahren angefangen, als sie Fünfundzwanzig gewesen war. Damals hatte es jedoch nicht nach Schwierigkeiten ausgesehen. Sie hatte sich ganz einfach verliebt – war nicht nur mit ihm ausgegangen, sondern hatte ihn wirklich geliebt.
Aber er war verheiratet, und obwohl er ihr immer wieder versprach, seine Frau zu verlassen, hatte er jeden Monat eine andere Ausrede dafür, warum er es nicht tun konnte. Er entschädigte sie auf andere Weise dafür. Zahlte ihre Miete und gab ihr jede Woche Geld, sodass sie ihren Job als Kellnerin aufgeben konnte.
Noch immer ging sie zum Vorsprechen, doch die meiste Zeit blieb sie zu Hause, für den Fall, dass Tony anrief oder zu ihr kam.
Sie blieb zu Hause und sie trank.
Hauptsächlich Wodka, weil er nach nichts schmeckte und Tony ihn nicht in ihrem Atem riechen konnte. Nach einiger Zeit ging sie fast überhaupt nicht mehr aus der Wohnung, und ihre anderen Freunde hörten auf, sie anzurufen. Aber sie hatte ja Tony, also machte ihr das nichts aus.
Dann rief Tony eines Tages nicht an, und als der Anruf auch am nächsten Tag ausblieb, rief sie an. Sie versuchte es wohl hundertmal, aber seine Sekretärin stellte sie nie durch, also rief sie ihn zu Hause an. Immer wieder.
Nach einer Weile ließ seine Frau die Telefonnummer ändern. Da begann sie ihm vor dem Gebäude aufzulauern, in dem er arbeitete, und wartete darauf, dass er herauskam. Jedes Mal sagte er ihr, dass er sie nicht mehr sehen wolle, doch sie wusste, dass das nicht die Wahrheit war – nicht die Wahrheit sein konnte, weil er ihr immer versprochen hatte, sie eines Tages zu heiraten.
Als Tonys Frau – sie hieß Angela – ihn zwang, die Mietzahlungen für Tillie einzustellen und ihr Geld zu geben, ging Tillie zu ihr. Sie wollte nur mit ihr reden, erklären, dass Tony sie liebe, nicht Angela. Das Messer nahm sie nur mit, um Angela Angst einzujagen, aber je länger sie auf Angela einredete, um so wütender wurde sie. Als die Polizei kam, war Tonys ganzes Apartment voller Blut und die Möbel zerschlagen; Angela behauptete, das sei Tillies Schuld.
Angela war nicht verletzt. Tillie aber blutete aus vielen Wunden, die sie sich selbst beigebracht hatte, und weinte, als sei das Ende der Welt hereingebrochen, also schickten sie sie eine Zeit lang in ein Krankenhaus. Als sie entlassen wurde, wusste sie nicht wohin, aber es war Hochsommer, also schlief sie in dieser Nacht im Central Park.
Am nächsten Tag blieb sie im Park und fing an mit Leuten zu reden. Bald hatte sie Freunde – sogar noch mehr Freunde als in der Zeit vor Tony –, und sie brachten ihr bei, wie man mit wenig Geld auskommt. Im Winter dann zogen sie und ihre Freunde in die Grand Central Station. Anfangs dachte Tillie, sie werde einen neuen Job finden, wieder kellnern oder so, doch die Monate vergingen und sie kam nie so recht dazu, und schließlich hörte sie auf, daran zu denken. Irgendwann im Lauf der Zeit – es war nicht wichtig, wann das gewesen war –, zog sie aus der Grand Central in die Tunnel, und je länger sie unter der Stadt lebte, umso besser gefiel es ihr. Natürlich kam sie auch noch gern nach oben, fühlte sich dort aber nicht mehr sicher; die Stadt hatte sich während der letzten dreißig Jahre zu sehr verändert. Wenn sie an einem Tag wie heute draußen war, versuchte sie immer in der Nähe ihrer Freunde zu bleiben. Außerdem hatte sie heute etwas zu tun, und sie hielt, während sie durch den Park schlurfte, Ausschau nach vertrauten Gesichtern.
Als sie zu Liz Hodges' Zelt kam, ließ sie den Einkaufswagen auf dem Weg stehen, bückte sich unter das Geländer und suchte sich den Weg hinunter auf das ebene Stückchen Land, das Liz immer makellos sauber hielt. Liz, ständig nervös, fuhr fast aus der Haut vor Schreck, als Tillie sie
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