Der Club der Lust
wenn jemand versucht hätte, zwanzig Bände der
Encyclopaedia Britannica
da reinzustopfen! Sie hatte ihre Tasche gestern Abend einfach hinter den Stuhl gestellt. Und bei all dem Partnertausch und dem allgemeinen Exhibitionismus hätte jeder der Anwesenden ihr das Papier zustecken können. Die Hauptverdächtigen waren natürlich Alex und Stella. Sie hätten es in die Tasche legen können, während sie auf der Toilette war. Aber sie hatte vor Betreten des Privatzimmers nicht mehr hineingeschaut und konnte es so nicht mit Bestimmtheit sagen.
Da die gebundenen Ausgaben am schnellsten zugänglich waren und auch die aktuellsten Artikel enthielten, entschloss Natalie sich, diese als Erste durchzusehen. Die Bücher waren schwer und unhandlich, und als aus Versehen einer der Einbände auf den Tisch knallte, verursachte das einen ziemlichen Lärm.
«Verzeihung», murmelte sie in Richtung der herumschnellenden Gesichter, die sie geringschätzig, in einigen Fällen auch unverhältnismäßig amüsiert über ihr Missgeschick anstarrten. Nur ein Mann, der am anderen Ende des Raumes tief in seine Studien versunken zu sein schien, sah sich nicht nach ihr um. Natalie starrte ihn an und runzelte die Stirn. Kam ihr die Gestalt nicht irgendwie bekannt vor? Das ließ sich nur schwer sagen, denn er saß hinter einigen Studenten, die ihn überragten und die sie angafften und kicherten. Vielleicht war der Mann ja nur schwerhörig oder so vertieft in seinen Lesestoff, dass er das Theater gar nicht mitbekommen hatte.
Und bald war auch Natalie ganz versunken.
«Pläne für ein neues Sportzentrum» war ein nachdenklich stimmender Artikel. Das Zentrum war anscheinend auf einem Grundstück errichtet worden, das aus umwelttechnischen Gründen heiß umkämpft gewesen war. Soweit Natalie es sehen konnte, hatte die Firma, der schließlich der Auftrag erteilt worden war, nicht mit allzu viel Konkurrenz zu kämpfen gehabt. Whitelaw Daumery wurde gar nicht erwähnt, und es fanden sich nur unzureichende Informationen über die involvierte Firma
Ainsley Rose Bausysteme
. Der Name sorgte aber dafür, dass Natalies Antenne für gute Geschichten sofort ausgefahren wurde. Sie notierte ihn und nahm sich vor, ihn so schnell wie möglich in Firmenverzeichnissen und im Internet nachzuschlagen. Der Verstand sagte ihr, dass Daumery entweder der Besitzer von
Ainsley Rose
war oder anderweitig ein Interesse an der Firma hatte. Oder warum hätte ihr unbekannter Helfer sie sonst darauf ansetzen sollen?
Was also als Nächstes tun? Sich an die Firmenverzeichnisse machen oder die Mikrofiches nach den anderen Artikeln durchsuchen? Am logischsten war es wohl zu checken, ob
Ainsley Rose
in den älteren Berichten noch einmal auftauchte oder ob weitere Firmen involviert waren. Wenn ja, könnte sie die auch gleich überprüfen.
Die Lesegeräte waren genauso zickig, wie Roland, der Bibliothekar, es vorhergesagt hatte: Das erste funktionierte gar nicht, das zweite flackerte so stark, dass es sicher schnell für Kopfschmerzen sorgen würde, und das dritte und letzte funktionierte zwar, aber der Mechanismus, um den Mikrofiche unter der Optik zu bewegen, war klebrig und klemmte immer wieder. Nach ein oder zwei Minuten merkte Natalie, dass sie ihre Geduld, die bei allen technischen Geräten sehr begrenzt war, langsam verlor. Normalerweise reagierte sie auf derartigen Frust mit einem ganzen Schwung von erprobten Kraftausdrücken, aber wahrscheinlich würde selbst der entgegenkommende Roland empfindlich auflautes Schimpfen im altehrwürdigen Lesesaal der
Belvedere-
Bibliothek reagieren.
«Mist! Mist! Scheiße!», hauchte Natalie, als das Lesegerät wohl zum zehnten Mal streikte und sie noch nicht einmal die erste der relevanten Seiten gelesen hatte. Sie sackte auf ihrem Platz zusammen, griff sich ans Handgelenk, um nicht auf das Gerät einzuschlagen, und spürte plötzlich, wie ihre Nackenhaare sich aufstellten. Natalie war nie abergläubisch gewesen und glaubte auch nicht an übersinnliche Wahrnehmungen, aber in diesem Moment spürte sie die Anwesenheit irgendeines Wesens.
Sie drehte sich um. «Verdammt nochmal!»
Hinter ihr stand ein leicht nervöser Steven Small.
«Mein Gott, du bist es!», entfuhr es der Journalistin, die sich sofort wünschte, nicht ganz so offensichtlich reagiert zu haben.
Steven Small warf ihr ein schüchternes Lächeln zu – ein leichtes, auf merkwürdige Weise erregendes Verziehen der Lippen – und blickte dann auf das störrische Lesegerät. «Kann
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