Der Code des Luzifer
hatte den Stau aufgelöst. Die Schwerkraft zog das ganze Schneefeld, groß wie ein Fußballplatz, in die Tiefe.
Der Mönch bemerkte das Entsetzen in Max’ Augen. Er drehte den Kopf nach hinten, erkannte die Situation und klammerte sich noch fester an Max’ Arm. Wenn noch so ein Schneefeld ins Rutschen geriet, waren sie tot. Unter ihnen hatte sich ein fünfhundert Meter tiefer Abgrund geöffnet, wie der Schlund eines Vulkans, der dicke Wolken Pulverschnee ausspie, die von den weit unten aufprallenden Schneemassen aufgewirbelt wurden.
Der Mönch schüttelte den Kopf. Es war sinnlos. Er wusste, dass er sterben würde. Seine Verletzungen raubten ihm die letzten Kräfte.
»Nicht loslassen!«, schrie Max.
Die blutbeschmierte Hand des Mönchs wurde schlaff.
Max hatte das Gefühl, ihm würde der Arm ausgerissen, und seine Rippen schmerzten, aber das hielt ihn nicht davon ab, sich weiter fest auf den Felsen unter ihm zu pressen und den Mann mit aller Kraft festzuhalten.
Wieder stieß der Mönch einen verzweifelten Schrei aus und rief dann etwas auf Französisch, das aber teilweise in einemwürgenden Röcheln unterging. Max verstand lediglich Bruchstücke: »… allez … abbaye! … le crocodile et le serpent!«
Max riss entsetzt die Augen auf. Hinter dem Mönch waren nur noch zwanzig Meter Schnee übrig, alles andere war weg. Wenn das Stück, auf dem sie lagen, auch noch abrutschte, würden sie beide sterben und in einem weißen Nichts versinken.
Der Mönch griff mit der freien Hand nach einer Schnur, die um seinen Hals hing, zerriss sie und warf den Anhänger zu Max hoch. Es war ein Kreuz und etwas, das wie ein Medaillon aussah. Aber Max hatte jetzt nur Augen für den flehenden Blick des Verletzten, der mit schwacher Stimme noch einmal flüsterte: »Ez ihure ere fida – eheke hari ere.«
Max schüttelte den Kopf. Warum merkte der Mann nicht, dass er ihn nicht verstand? Und dann geriet der Schneeblock ins Rutschen, und der Mönch mit ihm, und seine Hand glitt aus Max’ Griff. Er starrte ihm in die Augen, während seine verzweifelt krallenden Finger Max’ Handschuh und die Uhr seines Vaters abstreiften und seine Nägel ihm die Haut aufritzten.
In dem Sekundenbruchteil, bevor er mit den tobenden Schneemassen endgültig in die Tiefe stürzte, schrie er ein Wort, das Max mühelos verstand.
»Luzifer!«
3
D ie Pistenpatrouille entdeckte Max eine Stunde später. Er lag auf einer gezackten Felsspitze, die über einem gewaltigen Abgrund in den Himmel ragte. Er war unterkühlt und bewusstlos. Die vier Männer seilten sich gemeinsam und gut gesichert ab und bargen Max auf einer Trage. Binnen zehn Minuten hatten sie ihn auf sicherem Gelände abgelegt und den Hubschrauber der Bergrettung angefordert, der ihn direkt zum Krankenhaus nach Pau brachte, das eine knappe halbe Flugstunde weiter im Süden lag.
Max verharrte in seinem Dämmerschlaf, und manchmal glaubte er durch schwarze Nacht zu stürzen, als ob der furchtbare Strudel, der ihm den Boden unter den Füßen weggerissen hatte, noch immer an ihm zerrte. Das mechanische Rattern des Helikopters drang bis zu ihm durch. Einmal sah er durch halb geöffnete Augen die schwirrenden Rotoren vor dem grauen Himmel und spürte den stechenden Geruch der Auspuffgase in seiner Nase. Er versuchte sich aufzurichten, aber er war fest angeschnallt. Ein Mann legte ihm beruhigend eine Hand auf die Brust. Der Mann lächelte. Alles war in Ordnung. Er war in Sicherheit.
Max war wieder bewusstlos, als der Hubschrauber landete. Er hatte eine Manschette um den Hals, seine Arme und Beine waren fixiert. Die französischen Rettungssanitäter leisteten wieimmer hervorragende Arbeit. So nah am Gebirge und einer viel befahrenen Autobahn stationiert, besaßen sie im Umgang mit Knochenbrüchen und unterkühlten Unfallopfern viel Erfahrung.
Im Krankenhaus ließ man sich von den Sanitätern über den Zustand des Patienten informieren. Schnell war klar, dass sie es mit einem kräftigen, gesunden jungen Mann zu tun hatten. Sein Muskeltonus war gut, sein Herzschlag regelmäßig, und es gab keine Anzeichen für innere Blutungen.
Der Arzt ordnete eine Kernspintomografie an. Die Schwester hatte bereits Max’ zerfetzte Skijacke aufgeschnitten und wollte gerade mit seiner Hose und dem Fleecepullover fortfahren, als er die Augen aufschlug.
»Nicht meine Sachen zerschneiden«, murmelte er. »Ich hab keine anderen.« Dann wurde er wieder ohnmächtig.
Der Arzt zögerte. In der verzweifelten Bitte des
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