Der Code des Luzifer
Jungen lag zugleich eine Leidenschaft für den Alpinsport, die ihm vertraut war. Max konnte nicht wissen, dass Dr. Marcel Riveux in seiner Freizeit als Freiwilliger in den Bergen Dienst tat; dass er jemand war, der die Verlockungen der hochgelegenen Täler kannte und eine innere Verwandtschaft zu Leuten empfand, die so wie er von den Bergen begeistert waren.
Er sah die Schwester an und schüttelte den Kopf. Und statt Max’ Kleider aufzuschneiden, machten sie sich behutsam daran, sie ihm auszuziehen.
Das Krankenhaus war technisch auf dem neuesten Stand. Hoch spezialisierte Ärzteteams sorgten dafür, dass jeder Patient bestmöglich versorgt wurde.
Max lag in dem Kernspintomografen und wurde langsam unter dem alles sehenden Auge des Geräts durchgeschoben. Erwar komplett von Technik eingehüllt. Nur der Scanner, der sein Gehirn und seine Wirbelsäule abtastete, spendete etwas Licht in diesem dunklen Kokon. Die Maschine gab tiefe, jaulende Geräusche von sich. Wie ein Autoalarm, dem die Kraft ausgeht, oder ein schlecht eingestellter Gitarrenverstärker, und einmal klang es wie das Zischen einer Dampflokomotive. Dann wieder ein Rauschen wie Wind in Bäumen. Max sah einzelne Lichtkleckse wie Schnee auf Zweigen und ließ sich von alldem in den Schlaf wiegen.
Der Arzt war von seinem jungen Patienten fasziniert. Alles schien normal; keine Hirnschäden, keine Schädelfraktur. Aber die Messwerte der Hirntätigkeit zeigten an, dass Max sich in einem ungewöhnlichen neurologischen Zustand befand. Die Scans seines Gehirns glichen sehr detaillierten Satellitenfotos der Erdoberfläche, und an einigen Stellen waren besonders aktive Gebiete zu erkennen. Ein farbiger Knoten, der Neocortex, in dem sich Gedankenprozesse abspielten, und das limbische System, das für Gefühle und Träume zuständig war – beide wiesen erhöhte Aktivität auf. Aber was den Arzt zu einer weiteren Untersuchung veranlasste, war die Aktivität des Hirnstamms, der für Instinkt, Überleben, Atmung und Herzschlag verantwortlich ist.
Er führte einen PET-Scan durch – eine Positronen-Emissions-Tomografie, die die biochemische Zusammensetzung des Gehirns ermittelt. Dieser Junge verfügte über Instinkte fast wie ein Tier. Der Scan ließ nichts von den Schädigungen erkennen, die jemand, der eine extreme Gefahrensituation durchlebt hatte, normalerweise aufwies. Während der Untersuchung hatte es einmal so ausgesehen, als sei Max gestorben. Sein Gehirn war in einen todesähnlichen Zustand übergegangen, aber dann erkannte der Arzt, dass dieser tierhafte Instinkt oder wie er dasnennen sollte, Max in Tiefschlaf versetzt hatte – ähnlich einem Winterschlaf. Nicht anders als bei einem Bären im Winter. Der Arzt versuchte sich diesen außerordentlichen Vorgang in Max’ Gehirn logisch zu erklären – vergeblich. Der Junge war ihm ein Rätsel. Was auch immer dahintersteckte, er brauchte mehr Zeit, das zu analysieren. Nur eines war sicher: Der Junge war etwas Besonderes.
Als Max schließlich steif und zerschlagen aufwachte, lag er in einem Krankenzimmer und hörte zwei Schwestern gedämpft miteinander sprechen. Die jüngere der beiden trug ihre dunklen Haare hinten zusammengebunden und ihre schlanken Finger zogen gerade die Fieberkurve am Fußende seines Betts nach. Die andere Frau war älter, vielleicht so alt, wie seine Mutter jetzt wäre, wenn sie noch leben würde.
Er blieb vollkommen still liegen, sein Instinkt hielt ihn davon ab, sich zu bewegen – wie bei einem verwundeten Tier. Sein Geist nahm einzelne Informationen auf und versuchte die Lücken dazwischen zu füllen. Er hatte keine Ahnung, wie er hierhergekommen war oder in welchem Krankenhaus er sich befand. Und dann kamen die Erinnerungen. Wirre Worte eines Sterbenden hämmerten in seinem Schädel. Er stöhnte auf und die beiden Frauen sahen ihn an.
»Ez … fida – eheke …«
Die ältere Frau trat näher und berührte seine Stirn.
»Was hast du gesagt?«, fragte sie auf Englisch, aber mit starkem Akzent.
»Ich weiß nicht …«, flüsterte Max. Die fremden Wörter wollten ihm nicht richtig über die Lippen. Wieder sah er das verzerrte Gesicht des Mönchs vor sich. Hörte seine Worte. Horchte noch einmal hin.
»Ez ihure … ere fida – eheke … hari … ere«, stammelte Max unbeholfen.
Die Schwestern sahen einander an und die Jüngere fragte mit freundlicher Stimme: »Weißt du, was du da eben gesagt hast, junger Mann?«
Max schüttelte den Kopf. Die Frauen schienen beunruhigt.
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