Der Code des Luzifer
nachdenken. Max versuchte den Kopf zu bewegen, schaffte aber nur wenige Zentimeter. Lawinenschnee war nicht fein und pulvrig, sondern nass, schwer und kompakt. Wie lange würde er in dem winzigen Hohlraum über seinem Gesicht noch Luft bekommen? Der Druck der Schneemassen auf seiner Brust wurde mit jedem Augenblick schlimmer.
Es gab kein Entkommen. Was würde ihn töten? Die Kälte oder der Druck? Er würde erfroren in diesem Grab liegen und nach der Schneeschmelze würde seine Leiche in den Fluss gespült, auf dem er noch vor wenigen Stunden mit dem Hai gekämpft hatte. Wie von Blitzlichtern beleuchtet, liefen in seinem Kopf noch einmal Szenen dieser Attacke ab. Das Kajak hatte das gleiche Tarnmuster gehabt wie der Skianzug des Killers eben, nur weiß auf schwarzem Grund. Und dieser Killer – schlank – war schnell und wendig auf dem Schnee gewesen. Jung? Schwer zu sagen. Der Hai? Nein. Der war kräftiger gebaut – hatte breitere Schultern – und bewegte sich nicht so elegant und leichtfüßig wie der Skiläufer mit dem Gewehr.
Max’ Gedanken trieben dahin. Erschöpfung und Sauerstoffmangel zogen sein Bewusstsein in einen magischen Tunnel. Farben wirbelten umher: Lila, Braun, Blau – ein Kaleidoskop, das seine Sinne verwirrte.
Als Max in Afrika war, hatte ihn eine Vergiftung an die Schwelle des Todes geführt. Damals hatte ihn ein Schamane gerettet. Der Medizinmann war ein Bakoko , ein Gestaltwandler, und er hatte Max eine Fähigkeit verliehen, die er nicht verstand und die ihm Angst machte. Wenn er sich sehr konzentrierte und dabei tief und langsam atmete, gelang es ihm bisweilen, sich selbst in ein Tier zu projizieren.
Max’ Vater hatte ihn gelehrt, den Glauben der sogenannten primitiven Völker niemals als Blödsinn abzutun, und er erinnerte sich jetzt lebhaft daran, wie er als Falke geflogen und als Schakal gelaufen war. Aber er wusste nicht, wie er die Verwandlung mit seinem Willen herbeiführen konnte. Und welches Tier war imstande, sich aus dieser Situation zu befreien? Lebendig begraben.
Ihm wurde angenehm warm. Er drohte einzuschlafen. Die Kerntemperatur seines Körpers, die zum Überleben notwendig war, sank unaufhaltsam. Schlafen war nicht gut. Schlafen bedeutete sterben. Plötzlich dachte er an Sophie. Das warme Café. Das schmutzige Fenster. Finstere Männer, die ihn anstarrten. Todesengel? Waren sie das gewesen? Todesengel, die ihn holen wollten? Der Bär, hatte Sophie gesagt. Sie sei auf der Suche nach einem Bären, den jemand gestohlen und nach Europa gebracht hatte, wo irgendwer ihn erschießen wollte.
Ein Bär würde Winterschlaf halten. Tief versteckt in einer Schneehöhle. Und dann würde er sich ins Freie wälzen, in die Frühlingssonne, und die herrlich klare Luft einatmen. Max’ Hand fühlte sich an, als hätte er einen Eispickel gepackt. Unmöglich. Er hatte keinen. Die wirbelnden Farben verschmolzen, zogen ihn in wildem Strudel mit sich. Max kämpfte dagegen an, aber seine Gedanken zerbarsten in winzige Splitter. Und dann spürte er plötzlich eine ungeheure Kraft.
Er reckte einen Arm, spürte eher, als dass er es hörte, ein Rascheln in dem kompakten Schnee. Seine Sinne schärften sich. Dumpfer Schweißgeruch, wie ein feuchtes Hundefell, drang ihm in die Nase und schlug sich in seiner Kehle nieder. Instinktiv knurrte er vor Anstrengung, als Schnee aus der Höhlung fiel, die er vor seinem Gesicht freigeschaufelt hatte. In dem gedämpften Licht sah seine Hand aus wie eine Tatze, eine Bärentatze, die im Schnee wühlte – seine Tatze!
Das Blau des Himmels sickerte intensiver durch die Schneekristalle. Max hatte den Eindruck, er könnte es nach oben schaffen, aber auf Beinen und Brust spürte er immer noch einen furchtbaren Druck, als wollte eine unsichtbare Hand ihm das Leben aus dem Leib pressen. Er verlor das Bewusstsein.
Und dann drang jemand von außen durch den Schneepanzer. Ein Gesicht. Wild verzerrt. Speichel hing von seinem schneeverkrusteten Bart. Ein Irrer, ganz in Schwarz gekleidet. Seine Hand schlug Max ins Gesicht. Max keuchte, spuckte Schnee aus und konzentrierte sich. Der Mund des Mannes mit seinen kaputten alten Zähnen bewegte sich, aber falls er etwas sagte, konnte Max es nicht hören. Seine Ohren waren immer noch mit Schnee verstopft. Es war der Mönch, der jetzt mit bloßen Händen hektisch den Schnee wegschaufelte. Es gibt nur zwei Möglichkeiten zu überleben, wenn man unter einer Lawine begraben ist: einen Sender bei sich haben und hoffen, dass die
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