Der Code des Luzifer
Klinge verschwand. Max wich vom Tor zurück und hob eine Hand über die Augen, um in dem grellen Licht etwas zu erkennen.
Bobby erschien auf der anderen Seite des Tors und trat neben eine verwirrt aussehende Frau. Sie war klein und drahtig, die zerzausten Haare hingen ihr bis auf die Schultern. Sie trug eine Art Kaftan, vielleicht war es auch ein Nachthemd. Max war sich nicht sicher. Aber das war ihm auch egal. An seinen Fingern war Blut. Die alte Frau machte auf dem Absatz kehrt und verschwand.
Plötzlich stand Sophie neben Max. Sie sah das Blut an seinen Fingern. Er schüttelte den Kopf. Nicht schlimm.
Bobby öffnete das Tor. »Tut mir leid. Das war meine Oma. Manchmal ist sie ein bisschen durcheinander.«
Max und Sophie traten in den Hof des Châteaus, die Kette rasselte durch die Gitterstäbe und das Vorhängeschloss schnappte wieder zu.
»Genau genommen«, sagte Bobby, während er prüfte, ob die Kette richtig saß, »ist sie total verrückt. Bei der sind sämtliche Schrauben locker.«
»Und du lässt sie raus?«, fragte Max.
»Nur bei Vollmond.«
Max fiel auf, dass Bobby nicht lächelte, als er das sagte.
Es lief ihm kalt den Rücken runter. Er kam sich vor, als sei er geradewegs in ein Gefängnis geraten.
Oder vielmehr in ein Irrenhaus.
8
D er Tod würde blitzartig eintreten, lautlos und gnädig. Ein sengender Schmerz würde dem Opfer vom Hals durch die Brust in Herz und Lunge schießen, ihm die Rippen zertrümmern und lebenswichtige Organe zerreißen. Der kalte Pfeil, der aus dem Himmel in seinen Körper fuhr, würde jeden Schmerzensschrei ersticken.
Der Name des Jägers war Fedir Tischenko – Fedir bedeutete Geschenk Gottes . Olha, seine slawische Mutter, hatte ihn verhätschelt; nachdem sie sich jahrelang ein Kind gewünscht hatte, hatte Gott endlich ihr Flehen erhört. Sie liebte ihren Sohn über alles, seinen Vater jedoch fürchtete sie, und auch Fedir sollte ihn bald fürchten lernen. Der Vater hieß Evgan. Er war ein Bandenchef, barbarisch, grausam und mächtig, und befehligte Klans in drei slawischen Staaten. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit verband über alle Landesgrenzen hinweg. Der Bund war mit Blut besiegelt und Außenstehende kamen niemals in diese Gemeinschaft hinein.
Fedir wurde zum Nachfolger seines Vaters erzogen, zu einem Leben voller Gewalt. Evgan lehrte ihn Ausdauer, Kriegslisten und Kampftechniken und die Fähigkeit, Schmerzen zu ertragen. Angst, hatte er ihm beigebracht, muss immer der andere haben. Ein Mann, der zum Herrschen geboren ist, muss seine Gegner niederwalzen wie die Windgötter ein Weizenfeld. Beschwichtige die Götter, verehre den Herrscher – oder stirb.
Evgan und seine Leute standen in dem Ruf, überall Chaos und Zerstörung anzurichten, und sie waren stolz darauf.
In der Antike glaubte man, dass die Männer vom Volksstamm der Neuri sich in Werwölfe verwandeln konnten. Solche Legenden wurden von den Bauern und der Landbevölkerung auf ihren Festen am Leben erhalten; dort traten Männer auf, Vucari oder Wolfsmänner genannt, die ihr Gesicht hinter Wolfsmasken verbargen.
Und die Drohung mit den echten Vucari war es, die Evgan und seinen Leuten so viel Macht verlieh.
Die Götter und Geister der Berge gehörten zu den Dingen, in denen Fedirs Eltern sich einig waren. Seine Mutter nährte Fedirs Respekt vor den alten Sitten und Gebräuchen. Die Slawen lebten mit ihren Mythen und verehrten heidnische Götter und eines Tages trat ein schreckliches Ereignis ein, das sie in ihrem Glauben bestätigte. Es war der Tag, an dem die Männer den Sohn mehr fürchten lernten als den Vater.
Als Fedir zwölf Jahre alt war, kam er einmal von der Dorfschule nach Hause und fand seine Mutter zusammengeschlagen am Boden liegen. Draußen tobte ein Gewitter, eins der schlimmsten seit Menschengedenken. Fedir rang seine Wut nieder, bis seine Mutter getröstet war. Dann trat er wieder in das Unwetter hinaus und machte sich auf den Weg, seinen Vater zu töten. Evgan hatte immer damit gerechnet, dass sein Sohn eines Tages seine Autorität und Führerschaft anfechten würde – freilich nicht schon so früh. Er sah den Jungen den steilen Hang zu sich hinaufsteigen, sah die Kraft in seinen Beinen und Schultern. Er konnte den Hass beinahe riechen, den sein Sohn ausströmte. Aber das war ihm gleichgültig, er war ja nur ein kleiner Junge.
Fedir stürzte sich auf seinen Vater. Evgan stieß ihn beiseite.
Fedir ging zu Boden, Blut lief ihm aus der Nase. Aber der mächtige Drang, seine
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