Der Code des Luzifer
sie jetzt standen, sei für Antoine d’Abbadie und seine Frau Virginie ein Ort der inneren Einkehr gewesen. Der Astronom, gestorben 1897 in Paris, sei zusammen mit seiner Frau in der Krypta unter dem Altar begraben.
Als der Kartenverkäufer wieder in seinem Büro verschwand, dankte Max dem Deutschen für seine Erklärungen und sagte, er wolle sich jetzt ein wenig allein umsehen. Dann nahm er Sayid beiseite.
»Komm, Sayid. Wir haben nicht so viel Zeit wie diese Touristen.«
Sayid hatte schon einige Übung mit den Krücken und eilte ihm mit großen Schwüngen zum nächsten Raum voraus.
»Hey, warte! Ich komm ja kaum mit«, rief Max lachend.
Das stimmte natürlich nicht, aber es linderte Sayids Befürchtung, er könnte Max in seiner Bewegungsfreiheit zu sehr einschränken.
»Wo fangen wir an?«, fragte er.
»Weiß noch nicht. Sehen wir uns erst mal hier unten um. Hier gibt’s viel über Äthiopien«, sagte Max, als sie an prächtigen Gemälden mit Szenen aus Abessinien vorbeigingen, wie das Land in alten Zeiten hieß. »Wenn Zabala hier so viele Jahre gearbeitet hat, hat das vielleicht was zu bedeuten.«
Sie gelangten in ein Schlafzimmer. Die Ausstattung war überwältigend. Das riesige Himmelbett wirkte winzig im Vergleich zu der verschwenderischen Umgebung. An die Wände waren arabische Schriftzeichen gemalt.
»Was heißt das, Sayid?«
Sayid sah sich die Schrift genauer an.
»Äh, weiß nicht genau. Irgendwas wie … Ah, warte, das ist ein altes arabisches Sprichwort. Mein Opa hat dauernd solche Sprüche auf Lager gehabt: >Wirf niemals Steine in deinen eigenen Brunnen.<«
Max machte ein verständnisloses Gesicht.
Sayid zuckte die Achseln. »Jedenfalls glaube ich, dass es so heißt. Was könnte damit wohl gemeint sein?«
»Na ja, vielleicht: >Mach bei dir zu Hause keine Dummheiten, sonst musst du den Schaden selber tragen!< Oder: >Sieh zu, dass du endlich an die Kanalisation angeschlossen wirst!< Woher soll ich das wissen?«, sagte Max.
»Aber du suchst doch hier nach irgendwelchen verborgenen Hinweisen!«
»Der gehört aber bestimmt nicht dazu. Komm weiter.« Max steuerte schnell in das nächste Zimmer und schaute sich nach dem Kartenverkäufer um, aber der ließ sich nicht blicken, und auch von den Deutschen war nichts mehr zu hören. Durch ein Fenster konnte er den Rand des Parkplatzes sehen. Ihr Auto war noch da. Gut. Das bedeutete, sein Plan hatte noch Zeit. Er kam ins Speisezimmer des Châteaus. Die Wände waren bis in Schulterhöhe holzgetäfelt, darüber hingen einige Büffelfelle und das Wappen von Antoine d’Abbadie mit dem Familienmotto in Latein.
»Was heißt das? «
»Ähm … Das ist Lateinisch …«
Sayid stöhnte. Er wusste um Max’ bescheidenen Kenntnisse in dieser Sprache.
Max überlegte kurz. »Ich glaube, das heißt: ›Das Leben ist nur Rauch.‹« Der Satz erinnerte ihn an seinen afrikanischen Freund, den Buschmann, dessen Volk glaubte, das Leben sei ein Traum, aus dem die Menschen eines Tages in der wirklichen Welt erwachen werden.
»Meinst du, das könnte ein Hinweis sein? Das Leben ist Rauch. Lateinische Sprichworte, arabische Sprüche … Alles könnte irgendeine Bedeutung haben«, sagte Sayid.
»Wie das zum Beispiel?« Max zeigte auf die Rückenlehnen der Stühle, die um den mit Intarsien verzierten Tisch standen. Sie waren mit grünem Samt bezogen und auf jedem stand ein arabischer Buchstabe. Max trat zurück und ging um den Tisch herum. »Was bedeuten diese Zeichen?«, fragte er Sayid.
»Kann ich nicht genau sagen, Max.«
»Was? Kannst du plötzlich nicht mehr lesen?«
»Das ist Amharisch. Äthiopisch.«
Das hatte der Deutsche gesagt, auf Englisch. Er stand plötzlich in der Tür und lächelte, als Max sich ein wenig zu heftig nach ihm umdrehte. Irgendetwas stimmte hier nicht. Als er die beiden Touristen in der Kapelle verlassen hatte, hätten sie ihren Rundgang eigentlich auf der anderen Seite des Châteaus fortsetzen müssen. Und Max glaubte, dass er auch die vorsichtigsten Schritte draußen im Gang gehört haben würde. Warum so leise? Vielleicht hatte Max sich auch nur von Sayid und den vielen verschiedenen Sprachen hier ablenken lassen.
»Ich nehme an, du bist Engländer, obwohl dein Deutsch gar nicht so schlecht ist«, sagte der Mann und lächelte Max an. Er hielt die Schlossbroschüre hoch. »Wenn man die Schriftzeichen auf den Stühlen in die richtige Reihenfolge bringt, ergibt sich eine Warnung: An diesem Tisch mögen niemals Verräter sitzen. «
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