Der Codex
Friedens und der Gelassenheit, die die Medit a tionsstunde ihm geschenkt hatte. Er ging zur Tür, verharrte und ließ seinen Blick über die mit Eichen und Manzanita gesprenkelten Hügel von Big Sur und den dahinter liege n den riesigen blauen Pazifik schweifen. Der Wind vom Oz e an verfing sich in seinem Gewand und blähte es mit kühler Luft auf.
Vernon war nun seit über einem Jahr im Ashram. Jetzt, in seinem fünfunddreißigsten Lebensjahr, glaubte er endlich, den Ort gefunden zu haben, an dem er leben wollte. Nach den zwei Jahren in Indien lag ein langer Weg hinter ihm: Er hatte es mit Transzendentaler Meditation, Theosophie, EST, Lifespring und sogar mit einem Ausflug ins Christentum versucht. Er hatte dem Materialismus seiner Kindheit eine Absage erteilt und versucht, in seinem Leben eine tiefere Wahrheit zu finden. Was den anderen, besonders seinen Brüdern, als Vergeudung von Lebenszeit erschien, war ihm ein Leben voller Fruchtbarkeit und Streben. Welchen Sinn hatte die Existenz, wenn nicht den, eben genau diesen Sinn in Erfahrung zu bringen?
Jetzt hatte er die Chance, mit seinem Erbe etwas wirklich Gutes zu tun. Diesmal nicht nur für sich, sondern für die anderen. Seine Chance war gekommen, etwas für die Welt zu tun. Doch wie? Sollte er versuchen, die Grabkammer allein zu finden? Sollte er Tom anrufen? Philip war ein Arschloch. Aber Tom wäre vielleicht bereit, sich mit ihm zusammenzutun. Er musste einen Entschluss fassen, und zwar schnell.
Vernon raffte sein Leinengewand zusammen und nahm den Pfad in Angriff, der zur Hütte des Lehrers führte - ein weitläufiges Gebäude aus Pappelholz in einem ruhigen Tal, umgeben von hohen Eichen und dennoch mit Aussicht auf den Pazifik. Unterwegs begegnete er Chao, dem fröhlichen asiatischen Jungen, der für den Lehrer Botengänge erledi g te. Er sprang ihm über den Pfad entgegen und hatte ein Bündel mit Briefen bei sich. Das war das Leben, das er g e sucht hatte: friedlich und unkompliziert. Schade, dass es so teuer war.
Als Vernon den Hügel umrundete, kam die Hütte in Sicht. Er hielt inne, da der Lehrer ihn ein wenig einschüchterte, dann ging er resolut weiter und klopfte an die Tür. Nach einer Weile rief eine leise, hallende Stimme aus den Tiefen der Behausung: »Tritt ein, du bist mir sehr willkommen.«
Vernon zog die Sandalen auf der Veranda aus und ging hinein. Es war ein Haus im japanischen Stil: einfach und asketisch. Die Schiebetüren waren aus Reispapier, die B ö den mit beigen Matten bedeckt. Darunter lagen glatte Holzdielen. Innen roch es nach Bienenwachs und Wei h rauch. Man hörte das leise Plätschern von Wasser. Durch eine Reihe von Öffnungen sah Vernon den japanischen Ga r ten, der sich vor dem Haus ausbreitete. Moosbewachsene Felsen ragten aus geharktem Kies auf. Da war auch ein Teich, in dem Lotos blühte. Den Lehrer sah er nicht.
Vernon wandte sich um und lugte durch einen Gang zu seiner Linken durch mehrere Türrahmen, hinter denen ein minderjähriges, barfüßiges Mädchen in einem Gewand z u gange war. An ihrem Hinterkopf baumelte ein langer blo n der Zopf; welke Blumen waren eingeflochten. Sie schnitt in der Küche Gemüse für den Lehrer.
»Bist du da, Lehrer?«, rief Vernon.
Das Mädchen fuhr mit seiner Tätigkeit fort.
»Hier entlang«, kam die leise Stimme.
Vernon folgte ihr und fand den Lehrer in seinem Meditationsraum sitzend vor. Er hockte mit gekreuzten Beinen und geschlossenen Augen auf einer Matte. Zwar öffnete er die Augen, doch er stand nicht auf. Vernon blieb respektvoll stehen. Die würdige, stattliche Gestalt des Lehrers war in ein einfaches Gewand aus ungefärbtem Leinen gekleidet. Ein langer grauer, glatt nach unten gekämmter Haarkranz wuchs um eine kleine kahle Stelle herum, sodass der Lehrer fast wie Leonardo da Vinci aussah. Scharfsinnige blaue A u gen fältelten sich unter den stark gebogenen Brauen der breiten Stirn. Ein gestutzter Bart mit grauen Strähnen ve r vollständigte das Gesicht. Wenn der Lehrer sprach, war seine Stimme weich und volltönend und mit einem ang e nehmen Rollen sowie einem leichten Brooklyn-Akzent u n terlegt, der ihn als Menschen niederer Herkunft kennzeic h nete. Er war um die sechzig; sein genaues Alter kannte ke i ner. Art Brewer, ehemals Philosophieprofessor an der Un i versität Berkeley, hatte seinem Amt entsagt, um sich in ein geistiges Leben zurückzuziehen. Hier, im Ashram, hatte er eine Gemeinschaft gegründet, die sich dem Gebet, der M e ditation und dem
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