Der Codex
spirituellen Wachstum widmete: Sie war auf angenehme Weise konfessionslos, basierte locker auf dem Buddhismus, wies aber weder die übertriebene Disz i plin noch den Intellektualismus, den Zölibat oder den Fat a lismus auf, die dazu neigten, diese spezielle religiöse Trad i tion einzuengen. Der Ashram war eher ein hübscher Z u fluchtsort in einer schönen Umgebung, in dem jeder u n ter der sanften Anleitung des Lehrers auf seine Weise bet e te. Kostenpunkt: siebenhundert Dollar pro Woche. Unterkunft und Verpflegung inklusive.
»Setz dich hin«, sagte der Lehrer.
Vernon nahm Platz.
»Wie kann ich dir helfen?«
»Es geht um meinen Vater.«
Der Lehrer war ganz Ohr.
Vernon sammelte seine Gedanken und atmete ein. Er berichtete von der Krebserkrankung seines Vaters, dem Erbe und der Herausforderung, das Grab zu finden. Als er fertig war, herrschte lange Zeit Schweigen. Vernon fragte sich, ob der Lehrer ihm raten würde, dem Erbe zu entsagen, denn ihm fielen seine zahlreichen negativen Kommentare über den bösen Einfluss des Geldes ein.
»Lass uns eine Tasse Tee trinken«, sagte der Lehrer. Seine Stimme war außergewöhnlich mild, und er legte sanft eine Hand auf Vernons Ellbogen. Sie saßen da, und der Lehrer rief nach Tee, den das bezopfte Mädchen ihnen brachte. Sie nippten schweigend an dem Getränk, dann fragte der Le h rer: »Wie groß ist dieses Erbe genau?«
»Ich schätze, nach Abzug der Steuern dürften ungefähr hundert Millionen übrig bleiben.«
Der Lehrer nippte erneut - und ziemlich lange - an seinem Tee. Dann trank er noch einen Schluck. Falls die Höhe der Summe ihn überraschte, ließ er es sich nicht anmerken. »Lass uns meditieren.«
Auch Vernon schloss die Augen. Die Konzentration auf sein Mantra fiel ihm schwer, denn die ihm bevorstehenden Fragen machten ihn nervös. Je länger er sie überdachte, d e sto komplizierter schienen sie zu werden. Hundert Milli o nen Dollar. Hundert Millionen Dollar. Der Wortlaut hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit seinem Mantra. Er kam ihm bei der Meditation in die Quere und hinderte ihn daran, innere Ruhe und Einkehr zu finden. Hundert Millionen. Hundert Millionen. Hundert Millionen.
Als sein Meister den Kopf hob, empfand Vernon Erleic h terung. Der Lehrer nahm Vernons Hände und umschloss sie mit den seinen. Seine blauen Augen waren ungewöh n lich hell.
»Nur wenigen Menschen wird eine solche Chance zuteil, Vernon. Du darfst sie nicht ungenutzt verstreichen lassen.«
»Ja, wirklich?«
Der Lehrer stand auf, und als er sprach, waren Kraft und Widerhall in seiner Stimme. »Wir müssen dieses Erbe s u chen. Und zwar sofort.«
8
Als Tom mit der Behandlung des kranken Pferdes fertig war, ging hinter der Toh-Ateen-Mesa die Sonne unter und warf lange goldene Schatten über Salbei und Chamisa. Dahinter erhob sich eine über dreihundert Meter hohe, im sterbenden Licht rot leuchtende Wand aus behauenem Sandstein. Tom sah sich das Pferd noch einmal kurz an, dann tätschelte er ihm den Hals und wandte sich der Besi t zerin zu, einer jungen Navajo. »Er wird's schon schaffen. Ist nur ein Anflug von Sandkolik.«
Die junge Frau ließ ein erleichtertes Lächeln sehen.
»Jetzt hat er erst mal Hunger. Führen Sie ihn ein paar Mal durch die Koppel, dann geben Sie ihm zusammen mit dem Hafer eine Schöpfkelle Psyllium. Lassen Sie ihn danach saufen. Dann geht's ihm bestimmt bald besser.«
Die Navajo-Großmutter, die fünf Meilen geritten war, um in seine Tierarztpraxis zu kommen - die Straße war, wie üblich, unterspült -, nahm seine Hand. »Danke, Doktor.«
Tom deutete eine Verbeugung an. »Stets zu Diensten.« Er freute sich schon auf den Rückritt nach Bluff. Er war froh, dass die Straße unterspült war, denn so hatte er eine En t schuldigung für den langen Ritt. Er hatte ihm zwar den halben Tag kaputtgemacht, aber der Weg führte immerhin durch eine der schönsten Felslandschaften des Südwestens: durch die als Morrison-Formation bekannten jurassischen Sandsteinablagerungen, die von Dinosaurierfossilien nur so strotzten. Dort gab es zahllose abgelegene Canyons, die bis zur Toh-Ateen-Mesa hinaufführten. Ob da oben je Paläo n tologen gewesen waren, um sie zu erforschen? Wahrschei n lich nicht. Irgendwann, dachte Tom, mach ich einen kleinen Abstecher in eine dieser Schluchten ...
Er schüttelte den Kopf und lächelte vor sich hin. Die Wüste war ein schöner Ort, um den Geist zu klären. Und er musste über vieles nachdenken. Diese verrückte Sache mit
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