Der Codex
»Kommen Sie her, mein Junge.« Er streckte seine lede r artige Hand aus, packte Toms Arm mit einem schrau b stockähnlichen Griff und zog ihn an sich. Er musterte ihn eingehend, wobei die Brillengläser seine Augen grotesk vergrößerten.
Tom hatte das Gefühl, der Greis blicke in seine Seele.
Nachdem Don Alfonso ihn eine Weile begutachtet hatte, ließ er ihn los. »Ich sehe, dass Sie und Ihre Gattin hungrig sind. - Marisol!« Er sagte etwas in der Sprache der Indianer. Marisol verschwand. Don Alfonso wandte sich wieder Tom zu. »Dann war das also Ihr Vater, der hier vorbeigeko m men ist, was? Sie sehen eigentlich gar nicht verrückt aus. Normalerweise ist nämlich ein Junge, der einen verrückten Vater hat, ebenfalls verrückt.«
»Meine Mutter war normal«, erklärte Tom.
Don Alfonso lachte brüllend und schlug sich aufs Knie. »Das ist gut! Sie sind also auch ein Witzbold. Ja, sie haben hier angehalten, um Proviant zu kaufen. Der Weiße war wie ein Bär. Seine Stimme trug fast einen Kilometer weit. Ich habe ihm gesagt, dass es verrückt ist, sich in den Meambar-Sumpf zu wagen, aber er hat nicht auf mich g e hört. Er muss in Amerika ein großer Häuptling sein. Wir haben einen lustigen Abend miteinander verbracht und viel gelacht. Dann hat er mir das hier geschenkt.«
Er griff hinüber, wo einige zusammengefaltete Jutesäcke lagen, kramte mit den Händen darin herum und hielt Tom und Sally dann etwas hin. Die Sonne beleuchtete den G e genstand. Er glitzerte in der Farbe von Taubenblut. Ein vollkommener Stern erstrahlte in ihm. Don Alfonso legte Tom den Gegenstand in die Hand.
»Ein Sternrubin«, keuchte Tom. Es war ein Edelstein aus der Sammlung seines Vaters. Er war ein kleines, wenn nicht gar ein großes Vermögen wert. Tom empfand plötzlich e i nen Ansturm von Gefühlen: Es war typisch für seinen V a ter, jemanden zu beschenken, den er gut leiden konnte. Einst hatte er einem Bettler fünftausend Dollar geschenkt, weil dieser ihn mit einer witzigen Bemerkung erheitert ha t te.
»Ja, ein Rubin. Er wird es meinen Enkeln ermöglichen, nach Amerika auszuwandern.« Don Alfonso versteckte den Stein sorgfältig wieder zwischen den schmutzigen Jutesä c ken. »Warum macht Ihr Vater so etwas? Als ich es aus ihm rauskriegen wollte, war er so ausweichend wie ein Coati.«
Tom warf Sally einen kurzen Blick zu. Wie sollte er es nur erklären? »Wir wollen ihn finden. Er ist ... krank.«
Bei diesen Worten riss Don Alfonso die Augen auf. Er nahm die Brille ab, polierte sie mit einem schmutzigen Lumpen und setzte sie schmutziger als zuvor wieder auf. »Krank? Ist es etwas Ansteckendes?«
»Nein. Er ist, wie man in Ihrer Sprache sagt, ein bisschen loco, mehr nicht. Es geht um ein Spiel, das er mit seinen Söhnen spielt.«
Don Alfonso dachte eine Weile nach, dann schüttelte er den Kopf. »Ich habe Yanquis viele eigenartige Dinge tun sehen, aber dies hier ist mehr als eigenartig. Ich habe das Gefühl, dass Sie mir etwas verschweigen. Doch wenn ich Ihnen helfen soll, müssen Sie mir alles erzählen.«
Tom seufzte und schaute Sally an. Sie nickte. »Er hat nicht mehr lange zu leben. Er ist mit seinem gesamten Besitz flussaufwärts gefahren, um sich bestatten zu lassen. Und er hat uns die Aufgabe gestellt, sein Grab zu finden, wenn wir unser Erbe haben wollen.«
Don Alfonso nickte, als sei dies die natürlichste Sache der Welt. »Ja, ja, so etwas haben wir Tawahka-Indianer früher auch gemacht. Wir haben uns mit unserem Besitz bestatten lassen und unsere Söhne verärgert. Aber dann kamen die Missionare und haben uns erklärt, dass Jesus uns im Hi m mel neue Dinge schenkt und wir die Toten ohne Beigaben bestatten sollen. Also haben wir den Brauch aufgegeben. Aber ich glaube, dass die alte Methode besser war. Auße r dem weiß ich nicht genau, ob Jesus wirklich alles für die Verstorbenen hat. Die Bilder, die ich von ihm gesehen habe, zeigen einen armen Mann ohne Kochtöpfe, Schweine, Hühner und Schuhe. Er hatte nicht einmal eine Ehefrau.« Don Alfonso zog laut die Nase hoch. »Aber vielleicht ist es auch besser, wenn man seinen Besitz mit ins Grab nimmt, weil sich die Söhne dann nicht darum streiten. Sie streiten sich doch schon darum, wenn man noch lebt. Deswegen habe ich alles, was mir gehört, meinen Söhnen und Töc h tern geschenkt und lebe wie ein armer Hund. Es ist respe k tabel, so zu leben. Nun haben meine Söhne keinen Grund, sich um etwas zu streiten und ... Was noch wichtiger ist: Sie wollen gar nicht,
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