Der Colibri-Effekt
er sich zusammen. »Machen Sie es kurz, Siebenstädter. Was können Sie mir
zu unserem Kopflosen aus Baunach sagen?«
Die
Erleichterung des Pathologen, endlich ein unbelastetes fachliches Thema
aufgreifen zu können, war durch das Telefon hindurch förmlich zu spüren. Daraufhin
passierte etwas Seltenes: Siebenstädter fasste sich kurz und bündig. »Leiche,
männlich, Mitteleuropäer, etwa dreißig Jahre alt. Tod durch Enthauptung. Das
Mordwerkzeug muss den Halsverletzungen nach eine ziemlich scharfe Hiebwaffe
gewesen sein, also ein Schwert oder etwas Ähnliches. So weit, so gut. Was für
Sie noch interessant sein könnte, Haderlein: Dem Toten wurde vor seinem Ableben
eine Droge injiziert. Einstich am Oberarm. Leider haben wir die Chemikalie noch
nicht identifizieren können, aber bis heute Abend kriege ich das hin. Wenn Sie
darüber hinaus noch Klärungsbedarf haben, dann kommen Sie doch einfach vorbei.
Das war’s, Haderlein. Jetzt wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag und viel
Erfolg bei Ihrer Polizeiarbeit.« Sprach’s und legte umgehend auf.
Haderlein
schaute verblüfft sein Telefon an und versuchte die Neuigkeiten zu verarbeiten.
Während
er sich auf dem Weg zur Stufenburg befand, rasten die Gedanken förmlich durch
sein Gehirn. Da hatte jemand sehr dringend eine Information von dem Zimmermann
haben wollen und war bei der Erreichung dieses Zieles nicht besonders
zimperlich vorgegangen, folgerte Haderlein. Aber was genau hatte er
gewollt – und warum? Es wurde wirklich Zeit, dass Lagerfeld mit diesem
Hans Günther Jahn zurückkehrte. Vielleicht konnten sie dann ja etwas mehr Licht
in das Dunkel bringen, vielleicht aber würde das auch schon in wenigen Minuten
passieren, wenn er mit Hildegard Jahn gesprochen hatte. Am Burgtor wartete
schon Horst Geißendörfer mit einem schuldbewussten Gesichtsausdruck auf ihn.
Es war
inzwischen fast dreiviertel sieben, und die ersten Arbeiter trudelten ein.
Hildegard Jahns Fiat Panda parkte auf seinem gewohnten Platz, sie musste also
schon hier sein. Haderlein ging mit Horst Geißendörfer zum Baubüro und klopfte
an die Bauwagentür. Als niemand antwortete, öffnete der Hauptkommissar
vorsichtig die Tür. Der Anblick, der sich ihm bot, war nicht unbedingt der, den
er erwartet hatte.
Sofort
wies Haderlein Horst Geißendörfer an, draußen zu bleiben. Hildegard Jahn war
zwar anwesend, allerdings war nicht mehr viel von der jungen Frau übrig. Mit
einem Paketband gefesselt saß sie auf ihrem Bürostuhl und blickte ihn aus
leblosen Augen an. Quer über ihren Hals zog sich ein langer, tiefer Schnitt,
ihre Kleidung und der Boden des Bauwagens waren blutbesudelt.
Haderlein
erinnerte sich an die Auskunft Siebenstädters und überprüfte die Arme der
Architektin. Er musste nicht lange suchen, bis er am rechten Oberarm die kleine
Einblutung eines Nadelstiches entdeckte. Auch Hildegard Jahn war eine Droge
gespritzt worden, bevor sie umgebracht worden war. Was hatte der Unbekannte
damit bezwecken wollen? Und hatte er bekommen, was er wollte? Haderleins Gefühl
sagte Nein. Und das hieß im Umkehrschluss, dass der Fall sich auf brutale Art und
Weise zuzuspitzen begann.
Der
Hauptkommissar saß bereits eine Zeit lang auf einem Balkenstapel an der
Burgmauer. Er musste nachdenken. Die ganze Familie Jahn hing also irgendwie in
der Sache mit drin. Ob sie die Bösen oder die Guten waren, das war für Haderlein
noch nicht auszumachen. Die heutige Nacht hatte jedenfalls nicht gut für
Hildegard Jahn geendet. Jemand ging immer auf dieselbe Art und Weise vor. Er
benutzte eine große Klinge, keine Schusswaffen, injizierte Drogen. Was sollte
das? Waren sie einem Perversling, einem verrückten Serientäter auf der Spur?
Haderlein
spürte, dass ihm diese Version des Falles eindeutig mehr behagte. Die Folgen
wären zwar schlimm, aber nicht im Geringsten so weitreichend wie die der
Kernwaffen-Theorie. Der Schlüssel zur Lösung aller Probleme konnte in der Hand
von Lagerfeld und diesem Jahn liegen.
Tief in
Gedanken versunken betrachtete er eher beiläufig die Spurensicherer. Wochenlang
hatten sie eine eher ruhige Kugel geschoben, aber jetzt hatte es sie
knüppeldick erwischt. Die Jungs in ihren weißen Ganzkörperanzügen konnten froh
sein, wenn sie zwischen den Einsätzen überhaupt einmal ins Bett kamen. In dem
Moment der beruflichen Anteilnahme klingelte erneut sein Telefon.
»Haderlein?«
Er hatte eigentlich mit einem Anruf von Bernd gerechnet, stattdessen war seine
bessere Hälfte
Weitere Kostenlose Bücher