Der Colibri-Effekt
Tagen die Lücke im Bug der »Komsomolez« mit
Hilfe seiner Trennscheibe konsequent erweitert. Wenn die Trennscheibe
scheiterte, hatte er mit dem Schweißbrenner nachgeholfen, dessen Einsatz er
jedoch zu vermeiden versuchte. Der Brenner verbrauchte sehr viel Strom, sodass
er das ROV viel früher aus tausendachthundert
Metern Tiefe an die Wasseroberfläche zurückholen musste, um die Batterien
wieder aufzuladen. Wie auch immer, heute war der große Tag. Heute würde er das
letzte Stück der Metallummantelung des Torpedos durchtrennen, und der Hebung
des Objektes würde dann nichts mehr im Wege stehen. Aber genau der letzte war
auch der heikelste Teil der gesamten Aktion. Schließlich arbeitete er in
tausendachthundert Metern Tiefe bei einer Beleuchtung von nur wenigen
Scheinwerfern. Sein Geschick am Joystick, mit dem er die Roboterarme steuerte,
würde über Erfolg und Misserfolg entscheiden.
Aus
diesem Grund standen alle wichtigen Beteiligten des Auftrages in diesem Moment
hinter oder neben ihm: Sie wollten alle dabei sein, wollten den Moment
miterleben, wenn man im aufgeschnittenen Inneren von K-278, der »Komsomolez«,
sehen konnte, wie das ROV arbeitete.
Hans
Günther Jahn war aufgewühlt wie das stürmische Nordmeer oder kalt und
berechnend wie ein Gletscher, je nach aktueller Stimmungslage, die in letzter
Zeit ständig zwischen den beiden Extremen hin- und herschwankte.
Das
Abenteuer, der erste große Auftrag, war in einem einzigen Desaster geendet. In
der persönlichen Katastrophe von ihm, Marit und vor allem von Tom. Und wenn er
jetzt nicht ein Wunder vollbrachte, dann würden noch mehr Menschen wie Tom
enden. Ausgerechnet ihm, Hans Günther Jahn, hatte das Schicksal die Wahl
zwischen Pest und Cholera, zwischen Not und Elend aufgehalst. Seine
Möglichkeiten waren begrenzt, die Auswirkungen schrecklich, egal, wie er es
anstellte.
Der Job
war technisch machbar, keine Frage. Unter normalen Bedingungen sogar eine
reizvolle Aufgabe, die genau seinem Anforderungsprofil entsprach, aber nicht
unter der Androhung von Gewalt und Tod. Eigentlich hatte er damals seinen gut
bezahlten Job bei der Bundeswehr aufgegeben, weil er nie mehr Angst davor haben
wollte, getötet zu werden oder selbst töten zu müssen. Und doch stand er jetzt
genau vor diesen beiden Alternativen.
Und wenn
nicht noch ein Wunder geschah, so würde er womöglich den Menschen im Stich
lassen müssen, der ihm am teuersten war: Marit. Aber noch war es nicht so weit.
Noch konnte er um sie kämpfen.
Haderlein
war geschockt. Helga Falkenberg? Wieso denn Helga Falkenberg? Was hatte sie
denn mit allem zu tun? Zwei Morde in dieser einen Nacht? Zusammen drei Morde
und ein Mordversuch innerhalb weniger Tage. Hier musste es um eine verdammt
wichtige Angelegenheit gehen. Eine Angelegenheit, die jemandem bedeutsam genug
war, dass er dafür so bestialisch vorging.
Er
schwang sich umgehend in seinen Landrover und bretterte den Abhang hinab. In Baunach
bog er nach links und kam mit quietschenden Reifen vor dem Grundstück des
Barons zum Stehen. Polizeibeamte waren schon anwesend, die Spurensicherung war
noch oben auf der Burg beschäftigt.
Als er in
das Wohnzimmer trat, sah er die Bescherung sofort. Der kopflose,
blutüberströmte Rumpf von Helga Falkenberg saß in einem alten Ohrensessel, an
dem er mit grauem Klebeband befestigt worden war. Ihr abgetrennter Kopf lag
etwa zwei Meter entfernt.
Der
verstört wirkende Polizist im Zimmer wollte sich von seinem Stuhl erheben, aber
Haderlein bedeutete ihm, sich wieder zu setzen. Es war unangenehm genug für den
jungen Mann, eine kopflose Leiche bewachen zu müssen, bis die Spusi eintraf.
Haderlein
hielt sich nicht lang mit vorsichtiger Tatortbegehung auf und untersuchte den
Oberarm der Toten. Sofort fand er, wonach er suchte. Auch Frau Falkenberg hatte
der Mörder etwas mit einer Spritze injiziert. Haderlein ließ den Arm los und
rannte aus dem Zimmer und die Treppe in den ersten Stock hinauf.
In Helga
Falkenbergs Zimmer war alles penibel aufgeräumt – wie beim letzten Mal,
als er hier gewesen war. Unter dem Fenster stand ein Schreibtisch, dem sich der
Kriminalhauptkommissar nun zuwandte. In der zweiten Schublade von oben rechts
entdeckte er einen Reisepass. Er schlug ihn auf und sah, was er bereits
vermutet hatte.
»Helga
Jahn, geborene Falkenberg«.
Von
wegen, sie hatte nie geheiratet. Die Angabe des Namens Falkenberg war nur die
halbe Wahrheit gewesen. Die Tote im Wohnzimmer war ein weiteres Mitglied
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