Der Colibri-Effekt
wenn ja, was
passierte. Inzwischen war immerhin das eine oder andere Fahrzeug
vorbeigekommen, doch niemand hatte angehalten oder auch nur kurz zur Seite
geschaut. Nichts Verdächtiges. Und es half ja alles nichts. Er konnte nicht
ewig hierbleiben, irgendwann musste er sich aus seinem Versteck herauswagen.
Also gut.
Er stand
auf, nahm das Gewehr und verließ den Wald. Wachsam behielt er seine Umgebung im
Auge, bis er den Pick-up erreicht hatte. Doch sein Argwohn war unbegründet, der
Wagen war leer, nichts rührte sich in ihm oder in seiner Nähe.
»Da ist
er«, sagte der Bärtige, und sein Kompagnon blickte ihn sofort nervös an.
»Wer?
Gregory?« Er scharrte mit seinen Schuhen auf dem festgetretenen Schnee.
Der
Bärtige schüttelte ruhig den Kopf und lächelte grimmig. »Nein, aber er trägt
Gregorys Hose und das Hemd von seinem Hilfsdepp. Die beiden können wir
vergessen. Wie ich schon gesagt hatte, sie werden wahrscheinlich gerade als
Neubürger im Jenseits begrüßt.« Wieder hob er das Fernglas an die Augen und
blickte ins Tal.
»Und was
machen wir jetzt? Wollen wir nicht besser Rutger Bescheid geben? Soll der
doch –«
Unwillkürlich
zuckte der Bärtige zusammen und ließ langsam seine Hände mit dem Fernglas
sinken. Seine grauen Augen glänzten wie kalter Stahl. »Hast du überhaupt nichts
begriffen, du Idiot?«, zischte er. »Kannst du nicht ein einziges Mal vielleicht
dein Gehirn einschalten? Wenn Rutger uns erwischt, sind wir tot. Rutger ist ein
Fanatiker. Den interessiert das Geschäft nicht mehr, der will nur noch eins:
ihn umbringen. Der wird das alles hier sehr persönlich nehmen. Und für uns gilt
jetzt das Gleiche.« Er ging einen Schritt nach vorn und packte den Schwarzhaarigen
mit der rechten Hand am Kragen. Seine Augen fixierten sein Gegenüber, seine
Stimme war eisig, als er wieder sprach. »Wenn du Rutger irgendetwas steckst,
Sedat, werden entweder wir oder er sterben, ist dir das klar? Andere
Alternativen gibt es in diesem Fall nicht!« Wütend schüttelte er ihn. Sedats
gekräuselte Haare flogen willenlos hin und her.
»Ist ja
gut, ist ja gut! Lass mich los, Dag!«, rief Sedat verärgert. Obwohl er sich
heftig wehrte, hatte er den brutalen Kräften von Dag nichts entgegenzusetzen.
» Jævlig,
tyrkisk sønn av en lemen! «, fluchte der Bärtige auf Norwegisch. »Vergiss niemals,
Sedat, wenn du deinen Job gemacht hättest, müssten wir jetzt nicht hier
herumsitzen.« Dann ließ er Sedat einfach auf seinen Hosenboden fallen. Dag
streckte ihm auffordernd die rechte Hand entgegen. »Das Handy«, forderte er.
Verärgert
zerrte der klein gewachsene Türke das Mobiltelefon aus der Jeans und reichte es
ihm.
Dag
bedachte ihn noch einmal mit einem vernichtenden Blick, dann nahm er das Handy
und warf es, so weit er konnte, in die Geröllwüste hinter ihnen. Nach einigen
Sekunden konnte man es leise scheppern hören. Dieses Handy würde nie mehr wen
auch immer anrufen. Der Bärtige drehte sich wieder zum Fjord und blickte durch
seinen Feldstecher Richtung Pick-up, der sich in diesem Moment in Bewegung
setzte. Der Wagen fuhr bis zur Straße, dann bog er von ihrem Standpunkt aus
gesehen nach links ab, wo der Fjord sich zu verengen begann.
Dag
setzte das Fernglas ab und murmelte wie zu sich selbst: »Er fährt nach Elde,
wahrscheinlich will er nach Bergen. Aber das werden wir schon noch
herausfinden.«
Sedat
hatte sich inzwischen wieder berappelt und stand mit undurchsichtigem Blick und
stumm neben ihm.
Dag griff
in seine Tasche und holte den Scanner heraus. Ein paarmal berührte er den
Touchscreen, dann lächelte er zufrieden, als ein Piepen ertönte und ein
pulsierender Punkt auf dem Display erschien.
»Na,
also«, knurrte er, »hab ich dich doch.« Er drehte sich um und schaute Sedat mit
eisigem Blick in die Augen. » Kom igjen, du ditt huletroll «, knurrte er unmissverständlich.
Sedat
schaute verunsichert auf den Scanner in den Händen des Bärtigen und konnte das
alles nicht begreifen. »Aber das Signal war doch weg?«, fragte er rhetorisch.
Dag
lächelte nur kalt und schlug ihm auf den Rücken. »Plan B«, sagte er. »Los
jetzt.«
Die
beiden Männer gingen in Richtung des Jeep Cherokee, der weiter oben auf der
kleinen Passstraße auf sie wartete.
Das Auto
war zwar abgeschlossen gewesen, aber er hatte den Schlüssel praktischerweise in
einem kleinen Mäppchen in der Beintasche seiner neuen Hose gefunden. Er hatte
den Wagen aufmerksam von oben bis unten untersucht und nichts
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