Der Colibri-Effekt
Auffälliges
gefunden, dafür aber zehntausend Norwegische Kronen in einem braunen
Briefumschlag. Das mussten ungefähr tausenddreihundert Euro sein, überschlug
er. Auch die Währung konnte er sofort umrechnen, es war wirklich zum
Wahnsinnigwerden. Manches wusste er ganz automatisch, aber an seinen Namen oder
sein bisheriges Leben konnte er sich nicht erinnern.
Noch
einmal schaute er mehrere hundert Meter die Felswände am gegenüberliegenden
Fjordufer hinauf. Eine gigantische Kulisse. Dort oben lag bestimmt noch
meterdick Schnee. Er überquerte die Straße, um ein Verkehrsschild zu lesen.
Links ging es nach Hamre, wahrscheinlich eine kleine Ortschaft diesseits des
Fjords, rechts nach Elde, das vermutlich auch nicht mehr Einwohner hatte, aber
darüber stand in großer Schrift: »Bergen«. Wieder zuckten Bilder durch seine
Erinnerung. In gedecktem Rot bemalte Holzhäuser, ein Hafen, der Fischmarkt. In
Bergen schien er auch schon gewesen zu sein. Wieder lief ihm ein Schauer über
den Rücken. Entschlossen setzte er sich in den Pick-up und drehte den
Zündschlüssel. Der Motor des schweren Diesels startete sofort, und die Anzeigen
des Nissan leuchteten ihm entgegen. Der Tank war fast voll, das
Navigationsgerät zeigte ihm die Meldung: » Fremme «.
Das
konnte er von sich leider nicht behaupten. Aber gut, er hatte Geld, Hunger, und
er hatte immerhin ein vorläufiges Ziel. Er würde in die Küstenstadt Bergen
fahren, die sein Ich aus der Vergangenheit kannte. Dann würde er weitersehen.
Würde, wollte, könnte. Langsam hasste er sein Leben im Konjunktiv.
Er gab
Bergen als Ziel in das » Norsk« -sprachige
Navigationssystem ein, dann steuerte er den Pick-up auf die Straße und bog nach
rechts ab. Anscheinend war die norwegische Sprache für ihn auch kein Problem.
Er grinste das erste Mal, seit er neben dem brennenden Wrack aufgewacht war. Er
sprach fließend Fremdsprachen, war durchtrainiert und konnte mit bloßen Händen
Leute ausschalten: Er war schon ein toller Hecht. Dann wurde sein Lächeln von
einem bitteren Zug um seinen Mund abgelöst. Links erhaschte er einen kurzen
Blick auf eine Hinweistafel am Ufer: »Granvinfjorden«. Schon als er die nächste
Ortschaft erreichte, endete auch der eine Fjordausläufer, und auf einem großen
Straßenschild wurde links Bergen ausgewiesen. Bis dahin waren es nur
hundertvierzehn Kilometer. In Deutschland war das eine Angelegenheit von einer
guten Stunde, hier in Norwegen fast ein Tagestrip. Immerhin zeigte das Navi
keine Fähren an, die es zu benutzen galt. Auf Fähren zu warten, die einen von
einem zum anderen Fjordufer brachten, hätte die Reisezeit immens verlängert. Er
schaltete das Radio ein und bog auf die breite Straße in Richtung der bekannten
Küstenmetropole ab.
Zeitgleich
fuhr ein nagelneuer brauner Jeep Cherokee die Straße vom Örtchen Bilde zum
Fjord hinunter und nahm etwa zehn Minuten später den gleichen Weg wie der Pick-up
Richtung Bergen.
Lagerfeld
verbrachte den Rest des Tages ohne größere Aufregungen. Seine Befragungen der
Baunacher in unmittelbarer Nachbarschaft förderten nichts Aufschlussreiches ans
Tageslicht. Klar, der Lastwagen war bekannt: ein ausrangierter Laster der
Bamberger Kaliko. Das hatte zumindest groß auf den Lkw-Planen gestanden, mit
denen die Ladefläche abgedeckt war. Ansonsten war den Bewohnern nichts
Seltsames an dem Wagen aufgefallen – und genauso wenig an dem bärtigen
Mann mit den braunen, welligen Haaren, der mit dem Lkw durch die Gegend
gefahren war. Jeder wusste von der Großbaustelle des Barons oben an der
Stufenburg, wegen der ständig irgendwelche Laster durch Baunach fuhren, da war
dieser von der Kaliko keine Besonderheit.
Lagerfeld
nahm auf einer Bank im Garten des Barons von Rotenhenne Platz und beobachtete
die Spurensicherung, die noch immer eifrig das Gelände untersuchte – vor
allem aber genoss er die späte Nachmittagssonne, die ihm ins Gesicht schien. Ab
und zu warf er auch einen Blick auf die Wasserfläche und die Biber, wenn sie
sich blicken ließen. Der arme Baron. Die Tiere standen unter strengstem Schutz,
also würde der adlige Botaniker sie erst einmal nicht loswerden können. Warum
auch, fragte sich Lagerfeld amüsiert. Wer konnte schon damit angeben, einen
Bibersee im eigenen Garten zu haben? Wieder blickte er in die wärmende Sonne
und lächelte. Allerdings währte der entspannte Gesichtsausdruck nur so lange,
bis ihm seine eigene Mühlenbaustelle und seine Herzallerliebste wieder in den
Sinn
Weitere Kostenlose Bücher