Der Colibri-Effekt
ziemlich rund, und wir
konnten jede helfende Hand gebrauchen. Im letzten Jahr hat sich noch niemand um
einen Job hier gerissen, uns fehlten fachkundige Arbeiter an allen Ecken und
Enden. Arbeitswillige gab es schon, aber die meisten von ihnen waren völlig
unbegabte Idealisten.« Sie lächelte schief.
»Das hat
sich erst geändert, seit über den Jahreswechsel in den Medien mehrfach über das
Projekt berichtet wurde – auch überregional. Jetzt müssen wir sogar
Interessenten mit Ausbildung abweisen, weil wir uns vor Angeboten kaum retten
können. Verrückt, nicht wahr?«, warf der Baron mit stolzgeschwellter Brust ein.
»Und Hans
Kiesler war so ein fachkundiger Arbeiter«, stellte Haderlein fest.
»Das kann
man wohl sagen«, seufzte die Bauleiterin. »Hans war eine Idealbesetzung. Ein
ausgebildeter Zimmermann, der auch vom Mauern und Verputzen eine Menge
verstand. Wie ein Besessener hat er geschuftet. War als Erster da und ging
erst, wenn wir ihm das Licht ausgedreht haben – sozusagen.«
»Hans war
auch immer derjenige, der die besten Vorschläge machte, wenn es bauliche
Probleme gab«, warf der Baron von der Seite ein, während er heißes Wasser in
eine Teekanne goss. Der Bauwagen füllte sich sofort mit dem intensiven Duft
nach Kamille.
»Und
Kraft hatte der Kerl. Ich habe noch nie jemanden so Kräftiges getroffen. Hans
konnte noch Balken stemmen, wenn andere schon längst nach einem mittelgroßen
Baukran gerufen hätten.« Hildegard Jahn schaute versonnen durch die kleinen
Fenster des Bauwagens, und Haderlein dämmerte es, dass zwischen der Bauleiterin
und ihrem Herkules womöglich ein innigeres Verhältnis bestanden hatte, als sie
zugeben würde. Vielleicht könnte er ihr diese Frage ja später stellen.
Hildegard
Jahn wandte sich wieder dem Kommissar und dem Baron zu. Letzterer hatte drei
Tassen auf den Tisch gestellt und begann sie mit Kamillentee zu füllen.
»Tja, und
seit gut einer Woche ist Hans nicht mehr auf der Baustelle aufgetaucht. Er und
sein alter Laster waren eines Morgens nicht mehr da. Am Dienstag der vorletzten
Woche war er das letzte Mal hier«, seufzte Hildegard Jahn erneut. Der Schmerz
über das Verschwinden von Hans Kiesler stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Also war
er wahrscheinlich am Mittwoch verschwunden. Vor genau zehn Tagen, rechnete
Haderlein nach. Die Zeit passte zum vorläufigen Befund der Spurensicherung,
über den Ruckdeschl ihn informiert hatte.
»Woher
stammte Hans Kiesler denn? Hat er mal etwas über seine Familie erzählt?«,
fragte Haderlein ohne große Hoffnung auf Erfolg.
Hildegard
Jahn schüttelte sofort den Kopf. »Nein, von seiner Herkunft hat er nichts
gesagt. Aber er muss schon aus der Bamberger Ecke stammen, das hat man an
seinem leichten oberfränkischen Dialekt gehört. Sonst kann ich dazu leider nichts
sagen. Tut mir leid.«
Jetzt war
es an Haderlein, laut aufzuseufzen. Er hatte bereits so viel über diesen Hans
Kiesler erfahren, dass er ihn fast schon leibhaftig vor sich sehen konnte. Aber
eben nur fast. »Zu schade, dass wir kein Foto von ihm haben«, sagte er
bedauernd, während er die heiße Tasse Tee zum Mund führte.
Hildegard
Jahn schaute ihn einen Moment lang an. »Aber natürlich haben wir ein Bild von
Hans«, sagte sie lakonisch. »Ein sehr schönes sogar.« Sie erhob sich, ging zu
ihrem Schreibtisch und nahm ein großes Foto von der Wand hinter ihrem
Schreibtisch.
Haderlein
fiel vor Überraschung fast die Teetasse aus den Händen. Die Bauleiterin legte
das Foto im DIN-A 5-Format vor ihm auf den Tisch.
Das Bild zeigte sämtliche Arbeiter vor der gerade erst schulterhohen Burgmauer.
Sie knieten oder standen im Schnee, hielten irgendwelche Getränke in den Händen
und lächelten in die Kamera.
»Der
Große dahinten links, das ist Hans«, sagte Hildegard Jahn leise. Sie hatte sich
an die Wand des Bauwagens gelehnt und nippte an ihrem Tee. Bevor sich Haderlein
genauer dem Bild zuwandte, konnte er nicht umhin, dem Baron noch einen
bitterbösen Blick zuzuwerfen, der sofort eine schuldbewusste Miene aufsetzte.
»Das Foto
von der Weihnachtsfeier, ähem, das hatte ich tatsächlich vergessen. Tut mir
ehrlich leid«, hüstelte er entschuldigend vor sich hin.
Haderleins
Blick kehrte zu der Fotografie zurück. »Und das, obwohl auch Sie drauf sind,
Herr Baron?« Haderlein zählte die Personen auf dem Foto: zweiunddreißig. Alles
sah nach einer feuchtfröhlichen Weihnachtsfeier im Freien aus. Hildegard Jahn
kniete ganz vorn auf einem Brett, der
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