Der Consul
beging den Kardinalfehler eines Kriminalisten. Ich war parteiisch, ich hatte mich in eine Frau verliebt, die beschuldigt wurde, einen Mord begangen zu haben. Einen Mord, der einen Bürgerkrieg ausgelöst hatte. Ich war wahnsinnig geworden. Es würde mich den Kopf kosten, mindestens meine Stelle mitsamt der Pension. Ich würde zum Gespött der Kriminalisten werden als der Kommissar, der beim Anblick eines Rockzipfels den Verstand verlor.
Der Fahrer blickte mich immer noch an. »Wir fahren den Umweg«, sagte ich.
Gutmann schüttelte fast unmerklich den Kopf. Dann zog er den Riemen seines Stahlhelms stramm und fuhr los. Er gab Gas. Irgendwann bog er rechts ab. Der Wagen rumpelte über das Pflaster, mit einem Knall raste er durch ein Schlagloch. Der Gefreite fuhr um den Zoo herum, querte eine Brücke und stellte den Wagen in der Deckung eines kleinen Wäldchens ab. »Jetzt steigen wir erst mal aus und machen eine Pause.«
Sie steckten sich Zigaretten an, rauchten in der hohlen Hand, damit der Schein sie nicht verriet. Das Schießen in der Stadt war weit entfernt, es klang unwirklich. Hin und wieder hörte ich das Gebrüll eines Tiers im Zoo. Ich überlegte unsere nächsten Schritte. War das Reichsgericht schon in die Hand einer Bürgerkriegspartei gefallen? Wenn sie noch lebte, wie konnte ich Sofia Schmoll befreien? Sollte ich Leutbold auch befreien? Ich musste es wohl tun, um den Schein aufrechtzuerhalten. Aber es befreite mich nicht vom Zweifel. In mir keimte die Gewissheit, dass ich nicht mehr für Recht und Gesetz kämpfte. Je mehr ich mich dem Reichsgericht näherte, desto unsicherer wurde ich. Offenbar verlor ich den Verstand. Möglicherweise war Sofia in der Untersuchungshaftanstalt am besten geschützt. Aber dann hörte ich wieder Schüsse aus Richtung Innenstadt und wusste, dass in Leipzig niemand sicher war. Schon gar niemand, der in einem Gefängnis saß, das jederzeit gestürmt werden konnte. Ich dachte daran, was der Leutnant erzählt hatte. Braune hatten Gefängnisse gestürmt und inhaftierte Kommunisten ermordet. Gutmann stupste mich am Ellbogen. »Herr Kommissar, auch etwas?«
Er hatte eine Stulle in der Hand. Erst jetzt merkte ich, wie hungrig ich war. Ich nahm das Brot und nickte dem Gefreiten zu. Durfte ich ihn und seinen Kameraden in Gefahr bringen? In meinem Kopf rasten die Gedanken. Es wäre Unrecht, die beiden Beschuldigten den Nazis in die Hände fallen zu lassen.
Der Halbmond leuchtete schwach durch Nebelschwaden. Die Soldaten hatten kaum etwas gesagt. Sie hatten eine Zeltplane mehrfach gefaltet und sich darauf gesetzt. Den Baum nutzen sie als Rückenlehne. Sie dösten. Ich war herumgelaufen, hatte mich zeitweise in den Wagen gesetzt und meinen Gedanken nachgehangen. Erschöpfung, Angst, wirre Phantasien. Was sollte ich tun, wenn es uns gelang, Sofia zu befreien? Ich musste mir etwas einfallen lassen, improvisieren. Aber mir fiel nichts ein.
Als die Soldaten gegessen hatten, sagte ich: »Los geht’s!«
»Einen Augenblick«, sagte Gutmann. »Bevor ich erschossen werde, würde mich doch mal interessieren, was für ein Auftrag das ist, den Sie ausführen müssen.«
»Ich muss zwei Untersuchungsgefangene nach Berlin überführen.«
Gutmann schaute mich misstrauisch an, dann schüttelte er den Kopf, als wollte er sagen: Ihre Sorgen möchte ich haben. Die beiden Soldaten standen auf, vertauten die Plane im Kofferraum und setzten sich auf ihre Plätze. Es wurde kaum noch geschossen in der Stadt. Die Geschütze hatte ich schon einige Zeit nicht mehr gehört, ohne zu begreifen, was es bedeutete. Wir fuhren ohne Licht an der Uferböschung eines Flusses entlang, dann durchquerten wir einen Park. Es war niemand zu sehen, die Menschen hatten sich verkrochen. Manchmal schaltete Gutmann den Suchscheinwerfer ein. Ich erkannte ein Straßenschild: Mozartstraße. »Wir schleichen uns von hinten an«, sagte der Gefreite. »Man weiß ja nie.« Er flüsterte fast. Einige Minuten später bremste er, dann fuhr er in eine Seitenstraße und stellte den Wagen an den Rand. »Jetzt geht es zu Fuß weiter«, sagte Gutmann. Er holte sich den Karabiner vom Rücksitz und bedeutete seinem Kameraden auszusteigen. »Haben Sie eine Waffe?« fragte er mich.
»Ja.« Ich zog die Luger aus dem Schulterhalfter und zeigte sie ihm.
Er lachte. »Dann hoffen Sie mal, dass sich der böse Feind direkt vor Ihrer Nase aufbaut und Sie zuerst schießen lässt.«
Ich hörte die Schlösser der beiden Karabiner klicken.
»Bisher hat das
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