Der Cop und die Lady
sie womöglich doch in irgendeine hässliche Angelegenheit verwickelt? So hässlich, dass jemand versucht hatte, sie zu töten? Sie schauerte zusammen und berührte mit den Fingerspitzen den Verband an ihrer Stirn.
„Nein”, sagte sie hilflos. „Nein. Ich erinnere mich an nichts.”
Als Mike sie nun ansah, verspürte er Mitleid. In ihren Sitz gekauert, saß sie da und starrte mit angespanntem Gesicht ins Leere. Am liebsten hätte er sie in seine Arme gezogen, um sie zu trösten und ihr mit seinen Fingerspitzen sanft die angestrengten Linien, die sich um ihre Mundwinkel eingegraben hatten, zu glätten. Und mit seinen Lippen. Eine gefährliche und unangebrachte Vorstellung, sagte er sich. Selbst wenn sie ganz und gar unschuldig wäre.
Nun wandte sie ihm ihren Blick zu, so süß und so traurig, dass er das Steuer fester umklammerte. Angenommen sie schauspielerte nur, so verdiente sie einen Oscar. „Okay”, brummte er und startete den Motor. „Aber zumindest war es den Versuch wert. Machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Hey, würden Sie mir einen Gefallen tun? Schauen Sie doch mal in Ihre Manteltaschen.”
Sie schob ihre Hände tief in die Taschen. Ihr gefiel dieser Mantel, ein olivgrüner Trenchcoat aus Gabardine, lang und weit - ein auserlesenes Stück. Am Rücken war er schmutzig, wahrscheinlich von ihrem Sturz. Wieder blickte sie die trostlose Straße entlang und grübelte darüber nach, warum sie wohl hier gewesen sein mochte und was geschehen war.
In einer der Taschen stießen ihre Finger auf ein Stück Papier. Sie zog es hervor.
Es war ein Kassenbeleg über einen Mantel von Bloomingdale’s mit dem gestrigen Datum. Wahrscheinlich der, den sie trug. Sie hatte mit Kreditkarte bezahlt. Als sie den Preis sah, weiteten sich ihre Augen überrascht. Sie musste über ein stattliches Einkommen verfügen. Oder über extravagante Einkaufsgewohnheiten.
„Hier ist noch etwas”, sagte sie und grub in der Tiefe der linken Tasche. Der Gegenstand stellte sich als eine Plastikkarte heraus, die die Anschrift eines Bürogebäudes in der Innenstadt trug sowie Ninas Namen. Darüber prangte ihr Foto. Nina hielt Mike die Karte hin.
„Die Codekarte zu dem Bürogebäude, in dem Sie arbeiten”, sagte er.
„Sie haben gewusst, dass sie hier drin war.”
„Ja, sicher. Ich habe gestern Nacht natürlich Ihre Taschen durchsucht. Ich musste ja Ihre Identität feststellen.”
Weil sie merkte, dass er sie beobachtete, schluckte sie ihren Ärger hinunter. Sie hatte im Moment andere Probleme als den Schutz ihrer Privatsphäre. Er hatte nur das getan, was jeder Cop in einem solchen Fall tun würde. Und vielleicht könnte er ihr ja doch helfen. Sie war dringend auf Hilfe angewiesen.
„Wohin wollen Sie jetzt? Nach Hause oder zu Ihrer Arbeitsstelle?”
Nina holte tief Luft. Natürlich wüsste sie gern alles über ihre Arbeit, aber sie fühlte sich einer Konfrontation mit Menschen, die sie zwar kannte, an die sie sich jedoch nicht mehr erinnern konnte, noch nicht gewachsen. Allein der Gedanke an all die Fragen, die sie würde beantworten müssen, machte sie müde und unsicher.
Außerdem war sie neugierig auf ihr Zuhause. Vielleicht würde es ihr ja Auskunft geben darüber, wer sie war.
Sie sah Mike an. „In meine Wohnung, bitte.”
Leise durch die Zähne pfeifend fuhr er am Ruß entlang. Wenig später bereits hatten sie das Hafenviertel hinter sich gelassen und holperten auf dem Kopfsteinpflaster durch die Straßen von Society Hill, einem Viertel mit alten Stadthäusern, luxuriösen Apartments, teuren Restaurants und eleganten Boutiquen, das ebenfalls am Fluss gelegen war. Die roten Ziegeldächer der alten Häuser leuchteten in der Septembersonne, und die gelbgrünen Blätter der Bäume bewegten sich leise im Wind. In den Vorgärten blühten die Herbstblumen.
Touristen, mit Kameras bewaffnet, schlenderten durch die Straßen, schauten an den alten, oft reich verzierten Häuserfassaden empor und genossen die historisch angehauchte Atmosphäre.
„Touristen”, sagte Mike grinsend und deutete auf einen kleinen Pulk zu allem entschlossener Fußgänger, die mit gezückten Kameras über einen niedrigen Gartenzaun geklettert waren, um einen Blick durch die Fenster eines ganz schmalen, aber hohen alten Backsteinhauses werfen zu können.
Nina lachte. „Muss ziemlich hart sein, in einem dieser Häuser zu wohnen.” Und plötzlich erschrak sie. „Aber ich wohne doch nicht hier, oder?”
„Schauen Sie auf Ihren Führerschein. Da
Weitere Kostenlose Bücher