Der Coup von Marseille
Politiker und Möchtegernprominente die Bergdörfer heimsuchten und sich hinter jeder hohen Steinmauer verschanzten. Sie nahmen die rosafarbenen Flamingos der Camargue, die endlose Weite und Leere der Haute-Provence, das Gewusel auf den Dorfmärkten und das Massenaufgebot der Antiquitätenhändler in Isle-sur-Sorgue in Augenschein. Unterwegs probierten sie die Weine der Provence, teils in Garagen, teils in Palästen aus dem achtzehnten Jahrhundert – die eisgekühlte Süße des Beaumes de Venise, die berühmten Châteuneuf-du-Pape-Rotweine mit ihren komplexen Würznoten, die edlen Roséweine aus Tavel.
Und sie aßen jedes Mal gut und bisweilen erinnerungswürdig. Philippe hatte ihnen eine Liste seiner Lieblingsadressen zusammengestellt, und Elena und Sam verfielen rasch in die typisch französische Gewohnheit, die Besichtigungstouren des Tages auf ihr Bauchgefühl abzustimmen. Folglich traf man sie zur Zeit des Mittag- und Abendessens unweigerlich in der Nähe einer kleinen auberge oder eines ausgezeichneten Küchenchefs an.
Es überrascht wohl nicht, dass jeder Gedanke an Präsentationen und Projekte im müßigen, magischen Dunstkreis der Sonne und der gemeinsamen Entdeckungen in Vergessenheit geriet. Die Zeit schien stillzustehen. Elena befand sich in einem Zustand der Glückseligkeit, und Sam war ebenfalls euphorisch.
In der Zwischenzeit versuchte Lord Wapping, einige Meilen entfernt, in Marseille den Ausschuss mit seinem formalen Gebot zu bezirzen. Er hatte sich Frédéric Millet zur Hilfe geholt – genauer gesagt, ihn beauftragt, die Präsentation in seinem Namen zu halten – einen jungen Mann mit einwandfreien Qualifikationen, der nicht nur zweisprachig, sondern auch ein Vetter von Jérôme Patrimonio war und dazu noch den gleichen Geschmack in puncto Kleidung und Aftershave hatte.
Als Frédéric seine Schaubilder und Erklärungen herunterspulte, wurde klar, dass ihm mindesten zwei Angehörige des Ausschusses treu zur Seite standen. Wapping und Patrimonio, die beim Auftauchen jedes Schaubildes einhellig nickten und das Prozedere von Zeit zu Zeit mit beifälligem Gemurmel begleiteten. »Bravo, bonne idée« und »Très bien« kam von Patrimonio, und »Gute Arbeit, Fred« oder »Zeig’s Ihnen, Kumpel« von Wapping, der sich immer zuversichtlicher fühlte.
Kaum hatte Frédéric geendet, da sprang Patrimonio auch schon auf, um in seiner Eigenschaft als Vorsitzender eine Zusammenfassung des soeben Gehörten zu liefern. Nach dem obligatorischen Zurechtzupfen der Manschetten und dem Haareglätten ergriff er das Wort. »Als Erstes möchte ich Lord Wapping und seinem Kollegen Monsieur Millet zu dieser höchst interessanten und verständlichen Präsentation gratulieren.« Nachdem die höfliche Vorrede in aller Kürze abgehandelt war, runzelte Patrimonio die Stirn und setzte die aufrichtige, ernste und teilnahmsvolle Miene eines Verkäufers auf, der im Begriff ist, seine Kunden zu bearbeiten. »Dieses Konzept, scheint mir, erfüllt alle gestellten Anforderungen. Aus architektonischer Sicht befindet es sich auf der Höhe der Zeit, und ich sehe bereits vor mir, dass es sich in nicht allzu ferner Zukunft als epochales Wahrzeichen etabliert haben wird – ein Bauwerk mit ästhetischer Resonanz, das in hohem Ausmaß zum Prestige der Marseiller Küstenlinie beizutragen verspricht. Dazu kommt, wie Sie gehört haben, dass dieses Konzept nicht nur während der Bauphase, sondern permanent Hunderte neuer Arbeitsplätze im Rahmen der Verwaltung und Wartung der beschriebenen Einrichtungen schafft. Es ist schwierig, in allen Einzelheiten die Vorteile vorherzusagen, die sie der lokalen Wirtschaft bringen, aber man kann mit Sicherheit feststellen, dass sie sehr, sehr substanziell sind. Und lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung über eine Sache hinzufügen, die ich als äußerst wichtig erachte – wenn Sie so wollen eine fixe Idee, die in meinem Kopf herumschwirrt.« Er hielt inne, als wollte er dem Ausschuss die Gelegenheit bieten, sich die herumschwirrende Idee bildlich vorzustellen. »Luftraum, meine Herren. Luftraum. Eine kostbare, oft vernachlässigte Ressource. Hier sehen wir, wie sie maximal genutzt wird, so wie es sein sollte. Ich zögere nicht, den Ausschussmitgliedern dieses Konzept wärmstens zu empfehlen.«
Später, an der Bar des Sofitel-Hotels, verglichen Wapping und Patrimonio ihre Eindrücke.
»Ziemlich trostloser Haufen, Ihr Ausschuss«, befand Wapping. »Kaum Fragen. Was halten die von dem Konzept, was
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