Der Dämon, die Zeitmaschine und die Auserwählten (Zehn Namen) (German Edition)
Geräusche machen konnte in diesem seltsamen Wald. Nicht einmal das Umfallen eines riesigen Baumes hätte man durch das Konzert des ewig prasselnden Wassers hören können. Das feuchte Element zwang sogar die Regenwürmer, die nicht daran dachten zu ertrinken, an die Oberfläche des Waldbodens zu kommen. Und selbst sie schienen sich in Richtung Osten voranzuschleppen. In der für diese rosa Tierchen eigenen Art. Und nach Osten kämpften sich auch die Auserwählten weiter voran. Was auch immer im Osten sein mochte, falls überhaupt. Doch daran wollten sie augenblicklich gar nicht erst denken.
Ben schloss die Augen und stolperte blind weiter durch das Unterholz. Das machte auch schon nichts mehr aus, denn auch mit offenen Augen war nun, als der Regen seine stärksten Kräfte freigesetzt hatte, nichts zu sehen. Und Ben verfiel – der Realität überdrüssig – in einen Tagtraum. Er war wieder zurück in seiner Dimension. Ein altes Kindheitserlebnis erschien vor seinen geschlossenen Augen. Er verbrachte seine Schulferien auf dem Bauernhof seiner Großeltern. Er mochte so um die acht oder neun Jahre alt gewesen sein. Seine Eltern waren mit seiner Schwester, damals fast noch ein Baby, daheim geblieben. Ben war damals mit dem alten Schäferhund seines Großvaters spazieren gegangen. Obwohl es dem Opa nicht recht gewesen war, denn der hatte schon am frühen Morgen die Regenwolken aufziehen sehen. Opa rechnete fest damit, dass es im Laufe des Tages mehr als nur ein bisschen regnen würde. „Ist gut für die Felder, aber nix zum Spazieren gehen!“, hatte er damals gemeint. Aber wie ein Neunjähriger halt so ist, hatte er nicht auf den Altvorderen gehört und war trotzdem heimlich mit dem Hund in den Wald gegangen. Für Ben gab es in den Ferien nichts Schöneres, als den ziemlich langweiligen Großeltern zu entfliehen und mit dem geliebten alten Hund eine große Runde durch die Felder, Wiesen und Wälder zu drehen. Und ausgerechnet an diesem Tag hatte er sich eine besonders lange Strecke ausgesucht. Er erreichte schließlich ein Waldstück, das er noch gar nicht kannte. Aber er ging immer weiter, um nicht wieder zurück zu Oma und Opa zu müssen. Das hatte ja noch Zeit. Doch dann kam der angedrohte Regen. Und wie! Nicht so schlimm wie hier und heute, aber doch genügend, um einen kleinen Jungen, der sich ohnehin in fremdem Territorium befand, total zu verwirren. Im strömenden Regen konnte man es drehen und wenden, wie man wollte: Er hatte sich verlaufen. Er irrte noch einige Zeit ängstlich – schließlich wurde es, wie auch heute wieder, langsam dunkel – durch die Gegend. Er hatte wirklich große Angst. Er war sich nicht mehr sicher, ob er nicht damals sogar in die eh schon nassen Hosen gemacht hatte, denn so was vergisst man im Laufe der Jahre lieber. Auf jeden Fall gab er das Herumlaufen schließlich auf. Der Regen wurde stärker und der kleine Ben fing bitterlich an zu heulen. Doch keiner hörte ihn. Nur der alte Schäferhund, der plötzlich anfing, an der Leine zu zerren. Und nachdem er schon seit Stunden nicht mehr wusste, wo er war, gab er dem Willen des Hundes nach. Was hatte er schon noch zu verlieren? Traurig und ängstlich zugleich schloss er die müden Augen und ließ sich willenlos von dem alten Kameraden durch die Lande ziehen. Immer darauf bedacht, nicht zu stolpern. Dennoch passierte es einige Male. Vielleicht eine Stunde später blieb der treue Hasso stehen und hechelte. Dann öffnete Ben die Augen und sah, dass er vor dem Bauernhof seiner Großeltern stand. Es hatte danach zwar eine Tracht Prügel gesetzt, aber er war wieder daheim gewesen. Mit dem Bauernhof vor Augen endete Bens Tagtraum und er kehrte zurück in die Realität. Aber was erwartete ihn hier und jetzt, wenn er die Augen öffnete? Sicher, er rechnete nicht damit, so wie es damals geschehen war, den heimatlichen Bauernhof zu erblicken. Aber als er hier und jetzt die Augen öffnete, bot sich ihm ein Anblick, der den von damals belanglos erscheinen ließ. Vor ihm lag tatsächlich ein Dorf. Dann sahen es auch die anderen: Ein Dorf, und das mitten im Wald. Allerdings machte es nicht den Eindruck, als hätte man den Wald hier abgeholzt, um das Dorf zu bauen. Vielmehr schien es eher so, als hätte zuerst das Dorf existiert, und wäre dann verlassen und von der Vegetation eingeschlossen worden. Vor vielleicht fünfzig Jahren oder mehr. Vermutlich hatten die geflohenen Tiere irgendwo in den Häusern Schutz vor dem nur langsam nachlassenden Regen
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