Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod 2
sieht immer so traurig drein«, sagt der Sohn
voller Mitgefühl, »der kann einem richtig Leid tun!« − »Er
würde sich bestimmt wohler fühlen, wenn es jemanden geben
würde, der sich mit ihm unterhalten würde«, sagt der Vater.
Daraufhin stößt der Konjunktiv einen herzerweichenden
Klagelaut aus. Der Sohn nickt und sagt: »Vielleicht fühlte er
sich tatsächlich wohler, wenn es jemanden gäbe, der sich mit
ihm unterhielte.« Da hebt der traurige Konjunktiv den Kopf,
schaut den Jungen an und lächelt dankbar.
»Eine hübsche Geschichte«, sagt mein Freund Henry, »aber
mich stört das Happy End. Das ist mal wieder typisch für
deine Gefühlsduselei, geht aber an den Realitäten völlig
vorbei. Tatsache ist doch: Der Konjunktiv ist vom Ausster-
ben bedroht. Er liegt quasi in den letzten Zügen. Wenn du
beschrieben hättest, wie Vater und Sohn vor einem leeren
Käfig stehen, weil der Konjunktiv vorige Woche gestorben
ist, dann wäre die Geschichte glaubwürdiger.« Ich bin nicht
immer Henrys Meinung, manches sieht er ein wenig zu
drastisch, aber in einem Punkt hat er Recht: Der Konjunktiv
macht keine großen Sprünge mehr.
Dabei kann man nun wirklich nicht behaupten, der Kon-
junktiv sei eine unbedeutende Randerscheinung in der
deutschen Sprache. Die Grammatikwerke widmen ihm sei-
tenlange Kapitel mit zahlreichen Unterkapiteln und weisen
ihm nicht weniger als drei wichtige»Funktionsbereiche « zu,
in denen er zum Einsatz kommt.
Da wäre zum einen der »Wunsch«-Bereich (»Er lebe
hoch!«, »Mögest du hundert Jahre alt werden!«), zum zwei-
ten der Bereich des Unmöglichen und des Unter-bestimm-
ten-Bedingungen-doch-Möglichen, auch Irrealis genannt
(»Ich an deiner Stelle hätte es anders gemacht«, »Wir wären
schneller fertig, wenn du mal mit anfassen würdest!«), und
zum dritten der Bereich der indirekten Rede.
Der Bereich »Wunsch«, der auch jede Form der Auffor-
derung mit einschließt, ist noch relativ überschaubar und
verursacht nicht allzu große Probleme. Man braucht nur ein
Kochbuch aufzuschlagen, schon steckt man mittendrin:
»Man nehme drei Eier, schlage sie auf, trenne das Eiweiß
vom Dotter und gebe das Eiweiß in einen sauberen, fett-
freien Rührtopf.«
Der zweite Bereich hingegen ist alles andere als über-
schaubar. Dort hat man es zudem nicht nur mit einer Form
des Konjunktivs zu tun, sondern gleich mit zweien. Man
unterscheidet zwischen Konjunktiv I (er habe, sie sei, du
werdest) und Konjunktiv II (er hätte, sie wäre, du würdest).
Der Konjunktiv II ist immer dann gefragt, wenn es gilt, et-
was Hypothetisches zum Ausdruck zu bringen (»Hätte ich
deine Figur, könnte ich alles essen, was ich wollte!«), einen
irrealen Vergleich anzustellen (»Sie tut ja gerade so, als ob sie
schüchtern wäre!«) oder Zweifel anzumelden: »Zwar
hieß es, die Polizei hätte jeden Winkel im Umkreis von zehn
Kilometern abgesucht, aber die Angehörigen gaben sich
damit nicht zufrieden und machten sich selbst auf die Su-
che.«
Eine nach wie vor wesentliche Rolle kommt dem Kon-
junktiv in der indirekten Rede zu. Tagtäglich sind im
deutschsprachigen Raum ganze Heerscharen von Journalis-
ten damit beschäftigt, die Worte von Politikern, Managern,
Prominenten und Sachverständigen in indirekte Rede um-
zuschreiben, und dabei wird aus jedem Indikativ (»Ich bin
überzeugt, dass wir dieses Spiel gewinnen werden!«) ein
Konjunktiv (»Er sagte, er sei überzeugt, dass seine Mann-
schaft dieses Spiel gewinnen werde.«). Da die Arbeit von
Journalisten zum überwiegenden Teil darin besteht, die
Worte von anderen mit ihren eigenen wiederzugeben, wim-
melt es in Nachrichtentexten von Konjunktiven. Ich bin fast
sicher, wenn Sie eine Zeitung nähmen und diese ausschüt-
telten, so fielen mehr Konjunktive als Indikative heraus. Die
Beherrschung des Konjunktivs ist daher eine wesentliche
Voraussetzung für eine Laufbahn im Journalismus. Oder −
konjunktivisch ausgedrückt − sie sollte es sein.
Henry überrascht mich gelegentlich mit ganz erstaunli-
chen Formulierungen. Da sitzen wir zusammen im Cafe und
unterhalten uns über einen gemeinsamen Freund, und
plötzlich sagt er: »Säßen wir jetzt nicht hier bei Kaffee und
Kuchen, riefe ich ihn sofort an.« Zweimal Konjunktiv II in
einem gesprochenen Satz! Mir fällt vor Begeisterung die Ku-
chengabel aus der Hand. »Du meinst, würden wir jetzt nicht
hier sitzen, würdest du ihn sofort
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