Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod 2
anrufen?«, frage ich nach.
Henry sieht mich streng an:»Nein, ich meine säßen und riefe,
du hast mich genau verstanden.« − »Spräche jeder so wie
du, lieber Henry, schwämmen mir als Kolumnisten die Fel-
le davon«, erwidere ich augenzwinkernd. »Schwämmen
oder schwömmen?«, fragt Henry, und schon stecken wir
mitten im Sumpf der unregelmäßigen Verben. »Büke der
Bäcker sein Brot mit mehr Gefühl, verdürbe es nicht so
schnell«, sagt Henry. »Spönnest du weniger, so stürbe ich
nicht gleich vor Lachen!«, entgegne ich. »Hübe jeder seinen
Müll auf, gewönne die Stadt an Lebenswert«, kontert Henry.
»Gnade!«, rufe ich. »Das ist ja nicht mehr auszuhalten!
Hübe heißt es ganz bestimmt
nicht!« − »Das ist veraltet«,
sagtHenry, »aber was alt ist,
muss nicht gleich falsch sein.
Kennte ich noch mehr alte
Konjunktive, so würfe ich sie
liebend gerne ins Gespräch
ein!« Mein Freund Henry ist
selbstverständlich eine Aus-
nahmeerscheinung. In der ge-
sprochenen Sprache ist der
Konjunktiv fast ausschließlich
in der »würde«-Form zu
finden: »Ich würde gerne am
Freitag kommen« statt »Ich käme gerne am Freitag«. »Man
erzählt sich, sie würde in einer Bar arbeiten« statt »Man er-
zählt sich, sie arbeite in einer Bar«. »Das würde ich dir übel
nehmen« statt »Das nähme ich dir übel«.
Die Verwendung der »würde «-Form ist zwar weit verbrei-
tet, gilt allerdings als umgangssprachlich. Bis auf einige Aus-
nahmen: Die von Henry so geschätzten veralteten Kon-
junktiv-II-Formen dürfen standardsprachlich durch eine
Konstruktion aus »würde «und Infinitiv ersetzt werden. »Ich
würde dir ja helfen, wenn du mich nur ließest« ist erlaubt, da
kein Mensch mehr »Ich hülfe dir« sagte. Oder sagen würde.
Da haben wir schon gleich die zweite Ausnahme: Wenn der
Konjunktiv II mit der Form des Präteritums übereinstimmt
(was häufig der Fall ist), ist die Umschreibung mit »würde«
zulässig, allein schon, um Missverständnisse zu verhindern.
Denn Verständlichkeit ist stets die oberste Maxime, dem hat
sich auch der Konjunktiv unterzuordnen. Ein Beispiel: »Da
sie sich nie und nimmer für mich interessierte, spielt es keine
Rolle, was ich denke.« Um klar zu machen, dass hier nicht
die Vergangenheit gemeint ist, sondern eine unwahrschein-
liche Möglichkeit, ist es angebracht, sich der Hilfskonstruk-
tion mit »würde« zu bedienen: »Da sie sich nie und nimmer
für mich interessieren würde, spielt es keine Rolle, was ich
denke.«
»Nichts gegen Würde in der Sprache«, sagt Henry, »aber
zu viel würde kann die Sprache verunstalten!« − »Würde
man heute all diese Konjunktivformen in der gesprochenen
Sprache gebrauchen, würde sich das doch recht seltsam an-
hören − altmodisch eben, verschroben.« − »Nein«, wider-
spricht Henry, »wenn alle den Konjunktiv gebrauchten,
hörte es sich ganz normal an, weil sich unsere Ohren daran
gewöhnten.«
Bei unserem nächsten Treffen gebe ich Henry die überar-
beitete Geschichte vom Vater und Sohn im Sprachzoo zu le-
sen. Dort heißt es nun: »Wären Vater und Sohn an diesem
Sonntag in den Sprachzoo gegangen, hätten sie sich sehr ge-
wundert. Denn sie hätten den Käfig mit dem Konjunktiv
leer vorgefunden. Besorgt hätten sie sich an den Wärter ge-
wandt und ihn gefragt, ob der traurige Konjunktiv womög-
lich gestorben sei. Doch der Wärter hätte sie beruhigt. Er sei
letzte Nacht ausgebrochen, hätte er ihnen berichtet, und
laufe nun Amok durch die Stadt. Der Polizei gelinge es
nicht, ihn einzufangen, wann immer sie sich ihm nähere,
springe er auf und davon. Vater und Sohn hätten sich dar-
über sehr gefreut und gehofft, dass es ihm gelänge, neue
Freunde zu finden, denn dann begönne für ihn ein völlig
neues Leben.« − Henry blickt mich kopfschüttelnd an: »Du
bist unverbesserlich! Und vollkommen würde-los!«
Papierhaft oder papieren?
Frage einer Leserin: In unserem Geschäft wird viel von
papierhaften Dokumenten geredet und geschrieben. Ich
möchte gerne wissen, ob es dieses Wort überhaupt gibt.
Wenn es das nicht gibt, wie würde man den Unterschied zum
elektronischen Dokument nennen?
Antwort des Zwiebelfischs: Das Wort »papierhaft« hört sich
stark nach einer künstlichen Zusammensetzung an, die einem
bürokratischen Hirn entsprungen ist. Die bei der Bildung von
Adjektiven verwendete abstrakte Endsilbe »-haft« steht
hinter abstrakten
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