Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod 2
Frage
zum Nikolaus. Sie können aber von mir aus auch Knecht
Ruprecht nehmen oder den Gerichtsvollzieher oder meinen
Nachbarn. Die Person ist nebensächlich. Mir geht’s ums
Türklopfen. Klopft der Nikolaus an DER Tür oder an DIE
Tür?
Antwort des Zwiebelfischs: Beides ist möglich. Der Dativ
(»an der Tür«) ist die Antwort auf die Frage »wo klopft
es?«, der Akkusativ (»an die Tür«) ist die Antwort auf die
Frage »wohin/worauf/wogegen wird geklopft?«.
Geht es mehr ums Klopfen, dann zeigt man dies durch den
Dativ an:
• Es klopft an der Tür.
• Man hört ein Klopfen an der Tür.
• Minutenlang wurde wie wild an der Tür geklopft und
gerüttelt.
Geht es mehr um die Person, die anklopft, oder um die Tür,
an die geklopft wird, so wählt man den Akkusativ:
• Jemand klopft an die Tür.
• Er hatte an so viele Türen geklopft und war doch
nirgends eingelassen worden.
• Nur wer an diese Tür klopft, kommt auch hinein.
Der Bedeutungsunterschied ist allerdings minimal, oft wird
er gar nicht wahrgenommen. Für den Nikolaus selbst spielt
es wohl keine Rolle, ob er an die Tür klopft oder an der Tür.
Hineingelassen wird er in jedem Fall.
Ein ähnliches Phänomen lässt sich übrigens bei Verben der
körperlichen Berührung (schlagen, treten, beißen, schneiden
u.a.) beobachten: Wenn der Nikolaus mir auf gut Deutsch
eine langt, stellt sich die Frage, ob er mich (Akkusativ) ins
Gesicht schlägt oder ob er mir (Dativ) ins Gesicht schlägt.
Beides ist grammatisch möglich, wenngleich weder das eine
noch das andere wünschenswert ist. Der Dativ ist in diesen
Fällen allerdings häufiger anzutreffen.
• Er trat ihn/ihm vors Schienbein.
• Sie zog mich/mir an den Haaren.
• Ich habe mich/mir in den Finger geschnitten.
• Der Hund biss ihn/ihm ins Bein.
Bei unpersönlichen Subjekten steht fast ausschließlich der
Dativ:
• Der Wind peitschte mir (nicht: mich) ins Gesicht.
• Die Sonne stach ihm (nicht: ihn) in die Augen.
Beim Verb »küssen« (das ja ebenfalls eine körperliche Be-
rührung bezeichnet) steht die geküsste Person im Dativ,
wenn der geküsste Körperteil im Akkusativ steht, und sie
steht im Akkusativ, wenn der Körperteil von einer Präposi-
tion begleitet wird: Erst küsste er ihr die Hand, dann küsste
er sie auf den Mund. Dasselbe gilt für »lecken«: Erst leckte
er ihr die Hand, dann leckte er sie am Hals.
Das Imperfekt der Höflichkeit
Wenn es darum geht, Dinge zu beschreiben, die gerade passieren
und für diesen Moment gelten, dann benutzt man normalerweise
das Präsens. Normalerweise − aber nicht immer. Es gibt Situationen,
in denen die Gegenwartsform gemieden wird, als sei sie unschick-
lich. Ein schlichtes »Was wollen Sie?« wird plötzlich zu »Was woll-
ten Sie?«.
Mein Freund Henry und ich sitzen im Restaurant und geben
gerade unsere Bestellung auf. »Also, Sie wollten den Seeteu-
fel, richtig?«, fragt der Kellner an Henry gewandt. »Das ist
korrekt«, erwidert Henry und fügt hinzu: »Und ich will ihn
immer noch.« Der Kellner blickt leicht irritiert. Henry er-
klärt: »Angesichts der Tatsache, dass meine Bestellung gera-
de mal eine halbe Minute her ist, dürfen Sie gerne davon
ausgehen, dass ich den Seeteufel auch jetzt noch will.« Der
Kellner scheint zwar nicht ganz zu begreifen, nickt aber höf-
lich und entfernt sich.
»Was sollte das denn nun wieder?«, frage ich meinen
Freund, der es auch nach Jahren noch schafft, mich mit im-
mer neuen seltsamen Anwandlungen zu verblüffen. Henry
beugt sich vor und raunt: »Ist dir noch nie aufgefallen, dass
im Service ständig die Vergangenheitsform benutzt wird,
ohne dass es dafür einen zwingenden Grund gibt?« − »Das
mag zwar sein, aber ich wüsste nicht, was daran verkehrt
sein sollte«, erwidere ich. Henry deutet zur Tür und sagt:
»Das ging schon los, als wir hereinkamen. Du warst noch an
der Garderobe, ich sage zum Empfangschef: »Guten Abend,
ich habe einen Tisch für zwei Personen reserviert!«, und er
fragt mich: ›Wie war Ihr Name?‹ − »Ich ahne Furchtbares!
Du hast doch nicht etwa ...?« − »Natürlich habe ich!«, sagt
Henry mit einem breiten Grinsen. »Die Frage war doch un-
missverständlich. Also erkläre ich ihm: »Früher war mein
Name Kurz, aber vor drei Jahren habe ich geheiratet und den
Namen meiner Frau angenommen, deshalb ist mein Name
heute nicht mehr Kurz, sondern länger, nämlich Caspari.‹« −
»Ein
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