Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod - Folge 2: Folge 2 (German Edition)
die Großschreibung am Satzanfang ist ein Absolutum, da kann man nicht mal größer, mal kleiner schreiben, sondern eben nur groß. Die Tugenden indes können zum Beispiel besonders groß geschrieben werden, »groß« ist also erweiterbar, und daher gilt hier Getrenntschreibung.
Wer gestern noch hochqualifiziert war, ist heute bestenfalls noch hoch qualifiziert , denn auch hier lässt sich das Adjektiv erweitern (»besonders hoch qualifiziert«) oder steigern, sprich: Es könnte durchaus jemanden geben, der noch höher qualifiziert ist. Eine hochschwangere Frau ist hingegen nicht hoch schwanger ; denn man unterscheidet normalerweise nicht zwischen höher und weniger hoch schwangeren Frauen; »hoch« ist hier absolut gemeint, daher bleibt es bei der Zusammenschreibung.
Das mag man vielleicht noch alles einsehen, doch die neue Regel hat einen weiteren Nachteil: Die Antwort auf die Frage, wann ein Adjektiv gesteigert oder erweitert werden kann und wann es etwas Absolutes darstellt, liegt nicht immer auf der Hand, oftmals ist es Ansichtssache. So findet man in den einschlägigen Nachschlagewerken denn auch immer wieder den Hinweis: »In Zweifelsfällen ist sowohl Getrennt- als auch Zusammenschreibung möglich.«
Und Zweifelsfälle gibt es zuhauf: Früher war ein Star wohlbekannt , heute muss er sich fragen, ob er wohl bekannt ist. Da »wohl« außer »sehr« auch die Bedeutung »vermutlich«, »möglicherweise« hat, hat die Reform hier den Boden für unzählige peinliche Situationen bereitet. Am Ende stellt sich noch heraus, dass die Reform gar nicht wohldurchdacht war, sondern zwar wohl durchdacht, aber nicht genug.
Eingangs wurde festgestellt, dass man »schlechtmachen« heute nicht mehr in einem Wort schreiben kann. Die Unterscheidung zwischen dem konkreten »etwas schlecht machen« und dem übertragenen »jemanden schlechtmachen« fällt einfach weg. Bei »gutmachen« hingegen ist sie geblieben. Man kann seine Sache gut machen und einen Fehler gutmachen .
Wände, die einst vollgeschmiert waren, sind den neuen Regeln entsprechend voll geschmiert. Durch die zwangsverordnete Auseinanderschreibung lesen sich alle ehemaligen Zusammensetzungen mit »voll« heute so, als habe »voll« die Funktion des verstärkenden Jargonwortes: voll gepumpt, voll gestopft, voll besetzt, voll bescheuert …
Apropos bescheuert: Warum schreibt man nach der Rechtschreibreform »lahm legen« in zwei Wörtern, »stilllegen« aber nach wie vor in einem (dafür aber jetzt mit drei l)? Der Verkehr wird in zwei Wörtern lahm gelegt , die Fabrik wird in einem stillgelegt . Wie lässt sich das begründen?
Der Steigerungs- und Erweiterungsmerksatz greift hier nicht. Zwar ist »lahm« ein Adjektiv, das theoretisch gesteigert werden kann (»Heute arbeitet sie noch lahmer als gestern«), doch wer würde von einem noch lahmer gelegten Verkehr sprechen? Freilich kann »lahm« durch Wörter wie »völlig« und »total« erweitert werden. Aber das gilt genauso für die stillgelegte Fabrik, die lässt sich zum Beispiel komplett stilllegen , aber eben nicht komplett still legen .
Ob solcher Unstimmigkeiten mag mancher das Gefühl haben, sein Verstand sei vorübergehend lahmgelegt [Achtung: alte Rechtschreibung!], und sich wünschen, die Rechtschreibreform würde doch noch still (und heimlich zu den Akten) gelegt .
Die deutsche Schriftsprache zeichnet sich von jeher durch eine starke Tendenz zur Zusammenschreibung aus. Wortgruppen, die als Einheit empfunden werden, werden früher oder später auch in einem Wort geschrieben. Die Rechtschreibreform greift hier in natürlich gewachsene Strukturen ein und reißt wieder auseinander, was lange harmonisch verbunden war. Was wohl der selige Willy Brandt (»Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört«) dazu sagen würde?
Einige Beispiele für alte und neue Getrennt- und Zusammenschreibung
alte Schreibweise
neue Schreibweise
Alle Babys müssen lernen, allein zu stehen, viele Erwachsene müssen lernen, alleinzustehen.
Alle Babys müssen lernen, allein zu stehen, viele Erwachsene müssen lernen, allein zu stehen.
Einige sind andersgesinnt, und andere sind andersgläubig.
Einige sind anders gesinnt und andere sind andersgläubig.
Früher gab es frisch gebackenen Kuchen für den frischgebackenen Ehemann.
Heute gibt es frisch gebackenen Kuchen für den frisch gebackenen Ehemann.
Am Satzanfang wird groß geschrieben; Pünktlichkeit wird bei uns großgeschrieben.
Am Satzanfang wird großgeschrieben; Pünktlichkeit
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