Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod - Folge 3
Hand, mal mit dem ganzen Arm. In besonders engagierten Fällen auch mit beiden Armen. Manche erheben sich dazu sogar vom Stuhl. Der Zweck dieser Übung ist, die Aufmerksamkeit der Kellnerin zu erregen, die wie verhext ausgerechnet immer dann in eine andere Richtung schaut, wenn man gerade etwas bestellen will oder zu zahlen wünscht. Dazu rufen die Herren »Hallo!« oder »Entschuldigung!«, zunächst noch dezent, bald schon lauter, nach mehreren gescheiterten Versuchen fast verzweifelt.
Mein Freund Henry hat das nicht nötig. Er ruft in freundlichem Ton laut und vernehmlich »Fräulein!« durchs Lokal, und jeder dreht sich um, einschließlich der Bedienung. Für meinen Hinweis, dass »Fräulein« heute nicht mehr angebracht sei, hat Henry nur ein Schulterzucken übrig: »Aber ›Fräulein‹ wirkt! Und bisher hat sich noch keine der angesprochenen Damen bei mir beschwert.« – »Bis dir so ein ›Fräulein‹ irgendwann mal – ganz aus Versehen natürlich – ein volles Kännchen Kaffee über die Hose gießt!« – »Die Emanzipation der Frau mag uns das ›Fräulein‹ ausgeredet haben, aber sie hat uns keinen Ersatz geboten. Das war ein Fehler. Nun sind wir zum Hallo-Rufen und zum Entschuldigung-Stammeln verurteilt. Damit gebe ich mich nicht zufrieden. Warum sollte ich jede Kellnerin um Entschuldigung bitten? Ich habe schließlich nichts Schlimmes getan. Ich will doch nur etwas bestellen.«
In einem hat Henry recht, die Streichung des Wortes ›Fräulein‹ von der Liste der gesellschaftlich akzeptierten Wörter geschah ersatzlos. Die Anrede »junge Frau« ist nicht schicklicher, erst recht nicht, wenn man erkennen muss, dass die vermeintlich junge Frau bereits kurz vor der Rente steht. Die Anrede »Frau Oberin« wäre zwar konsequent emanzipatorisch, würde aber zu Missverständnissen führen, gerade in Städten mit einem Nonnenkloster. Es ist ein Kreuz: Das Fräulein ist futsch! Und damit nicht genug: Auch »mein Herr« und »meine Dame« sind verloren gegangen – was das Deutsche im Vergleich mit anderen Sprachen deutlich schwächer dastehen lässt. In Frankreich begrüßt man einander mit »Bonjour Madame« oder »Bonjour Monsieur«, und es macht gar nichts, wenn man vergessen hat, wie der andere heißt. Die Frau und der Herr im Deutschen kommen indes nicht ohne Namen aus; eine mit »Guten Tag, Herr ...« begonnene Begrüßung zwingt uns stets zur Nennung des Namens – und bringt uns dadurch bisweilen in peinliche Situationen. Auch das französische Fräulein gibt es noch, und keinem Franzosen käme es in den Sinn, das Wort »Mademoiselle« abzuschaffen, auch nicht den Mademoiselles selbst, die empfinden es nämlich geradezu als beleidigend, wenn sie mit »Madame« angesprochen werden: »Mon Dieu, sehe ich etwa so verheiratet aus?«
In einer beneidenswerten Situation befinden sich auch die britischen Kellner und Verkäufer, die mich als Kunden formvollendet mit »May I help you, Sir?« anreden können. Der gesellschaftliche Fortschritt hat uns Deutsche um dieMöglichkeit gebracht, mit einem charmanten »Was kann ich für Sie tun, meine Dame« oder einem höflichen »Guten Abend, mein Herr« eine formvollendete Konversation zu beginnen, und sei es nur zum Zwecke eines Schuhverkaufs.
Mein alter Freund Peter hat sich in wirtschaftlich schwierigen Zeiten unter anderem als Bratpfannenverkäufer bei Hertie durchgeschlagen. Um die Kundinnen an seinen Stand zu locken, sprach er sie beherzt mit »Madame« an – was weder in unsere Zeit noch nach Hamburg passte. Aber es passte zu Peter – und zu den Damen, die bei Hertie einkaufen gingen. Und so kamen die »Madamms« an Peters Stand, bestaunten seine angeblich unverwüstlichen Kochgerätschaften und ließen sich von ihm einwickeln. Als Verkäufer, vor allem aber als Überredungskünstler hatte Peter ordentlich was auf der Pfanne.
Henry meint, die jungen Frauen nähmen heutzutage an der Anrede ›Fräulein‹ keinen Anstoß mehr: »Die finden das eher schon witzig!« Als die Kellnerin zum Kassieren an unseren Tisch kommt, frage ich sie, wie sie im Dienst am liebsten gerufen wird. »Empfinden Sie es als beleidigend, wenn jemand Sie mit Fräulein anspricht?« Sie schüttelt den Kopf: »Wenn man in der Gastronomie arbeitet, wird ›Hallo‹ zwangsläufig zum zweiten Vornamen. Ich hasse ›Hallo‹! Da ist mir ›Fräulein‹ noch lieber!«
Das männliche Pendant zum Fräulein hat die Emanzipation unbeschadet überstanden: »Junger Mann,
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