Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod - Folge 3
zu beschreiben. In den nördlicheren Breiten unseres Sprachgebietes ruft diese Art eher Erstaunen hervor: »Es hat Glatteis? Ja, habt ihr sie noch alle?« Und schon gehen sie wieder aufeinander los, die Hanseaten und die Bayern, die Schwaben und die Rheinländer, die Wiener und die Berliner. So war es schon immer, und so wird es immer sein.
Uns interessiert an dieser Stelle natürlich vor allem, wie es in der Schulsprache aussieht. Hat die Lehrerin nun richtig gehandelt, indem sie den Satz anstrich und »ist« in »hat« verwandelte? Die Antwort lautet: ja und nein! Obwohl der siebenjährige Schüler in einer Region lebt, in der die Formulierung »Es hat Glatteis« glatt durchgehen würde, hat er sich für eine andere Konstruktion entschieden. Aus irgendeinem Grunde kam ihm »es hat« falsch vor, und so schrieb er lieber »es ist«, was verständlich ist, zumal die Hilfsverben »sein« und »haben« häufig in Rivalität zueinander stehen. Man denke nur an Beispiele wie: »Der Schrank hat dort gestanden« (Hochdeutsch) und »Der Schrank ist dort gestanden« (Süddeutsch). Oder an das französische »il y a« (wörtlich: es dort hat) und das englische »there is« (wörtlich: da ist). Vielleicht hat der Schüler auch an die Jahreszeiten gedacht; denn Sätze wie »Es ist Frühling« und »Es war Sommer« sind schließlich richtig.
Eine Formulierung nach dem Muster »Es ist Glatteis« oder »Es ist Nebel« sieht die Hochsprache jedoch nicht vor. (Außer als Antwort auf die Frage: »Was ist es?«) Entweder drückt man die Wetterlage durch ein Verb aus (es regnet, es schneit, es weht, es gießt, es friert, es scheint die Sonne, es stürmt) oder mithilfe eines Adjektivs (es ist regnerisch, es ist glatt, es ist neblig, es ist bewölkt, es ist windig, es ist sonnig, es ist stürmisch). In gehobener Sprache wird auch gern »es herrscht« verwendet: »Es herrscht ein böiger Wind aus Südwest.« Im Falle der Glatteis-Formulierung des Schülers hatte die Lehrerin zwar recht, das Hilfsverb »ist« anzustreichen, allerdings begab auch sie sich anschließend aufs Glatteis, indem sie stattdessen »hat« empfahl. »Es ist glatt wegen des Winterwetters« oder »Es herrscht Glatteis wegen des Winterwetters« wären bessere Empfehlungen gewesen.
Im Süddeutschen hat man’s mit dem »haben« aber nicht allein, wenn es ums Wetter geht. »Es hat« wird generell anstelle des standardsprachlichen »Es gibt« verwendet: »In der Schweiz hat es hohe Berge« (statt: In der Schweiz gibt es hohe Berge), »In meiner Familie hat es keinen Zauberer« (statt: In meiner Familie gibt es nur Muggel). Wer kenntnoch das schöne deutsche Chanson »Wunder gibt es immer wieder« 9 , mit dem Katja Ebstein 1970 beim Grand Prix in Amsterdam den dritten Platz errang? Ob sie sich beim deutschen Vorentscheid hätte durchsetzen können, wenn das Lied den Titel getragen hätte: »Wunder hat es immer wieder«? Wer weiß. Auf jeden Fall hätte es wohlmeinende Punkte aus der Schweiz gegeben.
Eines bleibt noch klarzustellen: Wenn man im Süden Deutschlands sagt: »Am Berg hat’s Schnee«, dann ist das nicht falsches Deutsch, sondern ein himmlischer Hinweis, der das Herz eines jeden Skifahrers höher schlagen lässt. Nichts liegt mir ferner, als Dialekte zu verdammen. Ich will nur Licht in das Dunkel bringen, durch das wir gelegentlich tasten, wenn wir auf der Suche nach einem gemeinsamen sprachlichen Standard sind.
Die Kolumne über Kongruenz bekommen Sie beim nächsten Mal zu lesen, sofern es bis dahin nicht wieder einen dramatischen Zwischenfall wie diesen hat.
9 Musik: Christian Bruhn, Text: Günter Loose.
[ Menü ]
Qualität hat ihren Preis
Jungen sind männlich und Mädchen weiblich? Einer ist keiner, und eine Mannschaft sind ganz viele? Wenn es doch so einfach wäre! Jede Sprache hat seine Tücken, vor allem das Deutsche mit ihren verwirrenden Wechseln zwischen den Geschlechtern und zwischen Einzahl und Mehrzahl.
Dieses hat seine Vorzüge, jenes seine Nachteile, manches hat sein Gutes, alles braucht seine Zeit, und jeder hat seinen Stolz. Diese und ähnliche Einsichten werden regelmäßig verkündet. Seltsamerweise hat noch nie jemand laut die Frage gestellt, von wem da eigentlich immer die Rede ist. Wer ist dieser Jemand, um dessen Vorzüge es geht, dessen Zeit gekommen und dessen Stolz unbestritten ist? Wer ist dieser »seiner«? Ist es der, dessen Name nicht genannt werden darf? Ist es Hassan der Hofhund? Oder Gott womöglich?
Des
Weitere Kostenlose Bücher