Der demokratische Terrorist
Seitenblick auf die Tannen und inspizierte sie mit nordischem Sachverstand. Es schienen Edeltannen zu sein, jedenfalls keine richtigen Tannen, trotz der unglaublich hohen Preise. Ein Lautsprecher am anderen Ende des Platzes plärrte deutsche Weihnachtslieder.
Carl nippte an seinem Glühwein, während die Gedanken hin und her flatterten. Seine Mutter hatte ihn eindringlich gebeten, nach Schonen zu kommen und mit den Verwandten Weihnachten zu feiern, die mit ihm auf Reh und Hasenjagd gehen wollten. Er verdrängte die Überlegungen und versuchte sich auf Loge Hecht zu konzentrieren. In diesem Augenblick wurden die Stände geschlossen, und ein Weihnachtslied wurde urplötzlich und mit rabiater Pünktlichkeit abgestellt. Es war genau 23 Uhr. Ordnung muß sein.
Carl stellte sein halbleeres Glas ab und flanierte noch ein wenig durch die Stadt, bis er in einer Gasse zwischen zwei Gebäuden aus Glas und Beton ein Fachwerkhaus entdeckte. Es war ein Restaurant mit einem Schild voller Weintrauben. Es sah vielversprechend aus. Carl ging hinein und fand tatsächlich ein gemütliches deutsches Lokal mit dunklen Möbeln und dicken Kellnerinnen in Dirndlkleidern vor.
Er bestellte sich ein Wurstgericht und entdeckte auf der Karte, daß man die Weine auch schoppenweise bestellen konnte. Er begann, sich durch eine Reihe von Weinen hindurchzuprobieren, von denen er noch nie etwas gehört hatte. Zu der Wurst trank er einen erstaunlich guten deutschen Rotwein.
Nachdem die Kellnerin abgedeckt hatte, machte er mit einem Weißwein vom Bodensee weiter, der von hellrötlichbrauner Farbe war und einen Geschmack hatte, der an nichts erinnerte, was Carl schon kannte.
Loge Hecht war unleugbar ein bemerkenswert intelligenter Mann. Es war fast unbegreiflich, wie gut er sich im Denken linker Gruppen auskannte. War er vielleicht selbst ein Links-Sozi wie der Alte? Oder beruhten seine Kenntnisse nur auf deutscher Gründlichkeit und Kompetenz?
Carl war gar nicht dazu gekommen, irgendwelche Zweifel an den Erfolgsaussichten des geplanten Unternehmens zu äußern.
Erst jetzt fiel ihm ein, daß er eigentlich in die Bundesrepublik gekommen war, um den Vorschlag der Deutschen zu prüfen und dann zunächst wieder nach Hause zu fliegen. Aber alles, was Loge Hecht gesagt und gefragt hatte, hatte auf Carl einen so durchdachten und professionellen Eindruck gemacht, daß er gar nicht dazu gekommen war, Zweifel zu äußern. Als Hecht sich plötzlich verabschiedet hatte, hatte alles festgestanden. Das Unternehmen hatte also begonnen. Nach einer Woche Terroristen-Büffelei in San Quentin/St. Augustin würde Carl in Hamburg als Terrorist vom Stapel laufen.
Er spürte allmählich die Wirkung des Weins und entschloß sich, nur noch ein Glas zu trinken. Er hätte die beiden Deutschen noch etwas fragen sollen. Es gab ein wichtiges Problem, dessen Lösung man nicht einfach dem Zufall oder der Improvisation überlassen durfte: Welches Ziel hatte das Unternehmen? In welcher Phase sollte es beendet werden, falls es erfolgreich war?
Zunächst ging es, soweit er verstanden hatte, darum, ein neues Hauptquartier der Rote Armee Fraktion in Hamburg zu lokalisieren. Es würde nicht genügen, ein paar Mitglieder zu fassen. Die deutschen Behörden wollten die ganze Führungsgruppe fassen. Wenn alles gutging, würde Carl zu einem bestimmten Zeitpunkt genügend Namen und konspirative Wohnungen kennen, und dann würde es an der Zeit sein, den großen bösen Schäferhund herbeizupfeifen. Carls Auftrag bestand in der Hauptsache darin, bis zu diesem Zeitpunkt am Leben zu bleiben, vorausgesetzt, daß es ihm überhaupt gelang, mit dem Feind Kontakt aufzunehmen.
Carl zahlte, verließ das Lokal und spazierte ziellos durch ein stilles und verlassenes, kleinstädtisch wirkendes Viertel. Als ein grünweißer Polizeiwagen vorbeifuhr, zuckte er zusammen, als hätte er ein schlechtes Gewissen, als wäre er schon ein auf der Fahndungsliste stehender Bankräuber. Das war ein völlig neues Gefühl.
Wie sollte das Unternehmen in rein taktischer Hinsicht beendet werden? Was war St. Augustin?
St. Augustin ist eine eher langweilige kleine Vorortgemeinde außerhalb Bonns; eine Hauptstraße mit Ladengeschäften, Villenviertel, die den eigentlichen Dorfkern umgeben, jenseits davon eine Ebene mit einigen Baumgruppen zwischen Ackern und Feldern. Das ist alles.
Außerhalb der Gemeinde jedoch liegt ein militärisches Sperrgebiet. Hinter den niedrigen Betonmauern und den Stacheldrahtzäunen erkennt man
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