Der demokratische Terrorist
den Kopf und nannte ihn naiv. Mit einem ironischen Lächeln fuhr sie fort: »Die meisten Terroristen, die in der Bundesrepublik verurteilt worden sind, hat man wegen verschiedener kollektiver Vergehen bestraft. Für uns Guerillakämpfer gelten nicht die normalen Gesetze, da es als zu schwierig gilt, einzelne Täter wegen einzelner Verbrechen zu überführen, etwa wenn es darum geht, wer wo einen Überfall begangen oder wen entführt oder eventuell getötet hat. Darum reicht es, einem Kommando anzugehören, das als überführt gilt, soundso viele Verbrechen begangen zu haben. So werden immer ganze Gruppen gemeinsam wegen sämtlicher Anklagepunkte verurteilt. Das spielt aber heute für mich keine Rolle mehr. Ich habe mich schon längst für die andere Seite entschieden, und damit ist der Fall erledigt. Das ist der Grund, warum ich nicht mehr Klavier spiele. Beethoven könnte mich des Terrorismus verdächtig machen. Ich hätte aber trotzdem eine andere Tonart vorgezogen. Ich bin froh, daß du hier bist«, wechselte sie demonstrativ das Thema.
Er nippte ein paarmal am Wein, bevor er den Mut aufbrachte zu fragen. Vieles an der Frau war ungewöhnlich und überraschend.
Das brachte ihn durcheinander. Außerdem sah sie ihn mit einem seltsam auffordernden Lächeln an, das ihn verlegen machte.
»Warum?« fragte er schließlich und mußte sich sogar räuspern, bevor er die Frage vollendete, »warum solltest du dich freuen, daß ich hier gelandet bin? Du hast doch sehr gut verstanden, daß ich nichts mit euch zu tun habe.«
»Schon richtig, aber das, was du kannst, bietet uns große Möglichkeiten. Du hast ja recht damit, daß wir in militärischer Hinsicht die Schwächeren sind. Gib mir mal deine Kassetten, ich suche uns was anderes aus.«
Sie wählte E-Dur und holte eine zweite Flasche Wein. Während sie draußen war, trat er auf den Balkon hinaus. Es war kühl. Er blickte auf die Elbe, orientierte sich mit Hilfe der großen Werftanlagen auf der anderen Seite und ließ den Blick erneut zu den besetzten Häusern unten an der Hafenstraße schweifen. Sie waren deutlich sichtbar, fast zum Greifen nahe, geographisch so unwahrscheinlich nahe und zugleich unwahrscheinlich weit weg, wenn man die Menschen dort unten, die meist so wie die tätowierten Säufer in Störtebekers Bande waren und sich als Sympathisanten betrachteten, mit den Menschen hier oben in ihrer Wohnung mit englischen Jagdstichen an den Wänden verglich. Es fiel Carl schwer, klar zu denken. Es fiel ihm schwer zu verstehen, warum er sich von dieser Frau so angezogen fühlte.
Als er vom Balkon ins Zimmer trat, saß sie auf dem Sofa.
»Wir beide wohnen hier im oberen Stock«, sagte sie und füllte zwei neue Gläser mit dem gleichen, ein wenig zu trockenen Moselwein.
8
Zum erstenmal in seinem Erwachsenenleben hatte Loge Hecht eine ganze Nacht schlaflos gelegen. Die Möglichkeit, daß es zu einer totalen Katastrophe kam, war einfach nicht zu ignorieren.
Er hatte versucht, sich ein paar Studien über Patty Hearst zu besorgen, die amerikanische Millionärstochter, die von einer kleinen Gangstergruppe mit dem unwahrscheinlichen Namen SLA, Symbionese Liberation Army, entführt worden war. Dann war Patty Hearst von einer Art Variante des Stockholmer Syndroms befallen worden, so daß sie mit ihren Entführern zu sympathisieren begann und am Ende sogar an einem Banküberfall teilnahm. Die eigenen Archive hatten jedoch nur eine magere Ausbeute ergeben, und es würde mehr als vierundzwanzig Stunden dauern, um die amerikanischen Archive anzuzapfen. Wenn es nicht um ein dringendes Sicherheitsproblem ging, mußte der meist sehr umständliche Dienstweg eingehalten werden.
Siegfried Maack war ebenfalls von Zweifeln befallen worden. Einerseits schien Hamilton ein gefühlsmäßig stabiler und intellektuell bestens ausgestatteter Mann zu sein, von dem nicht anzunehmen war, daß er sich so leicht von dem terroristischen Wahnsinn anstecken ließ. Andererseits war er mehr als zehn Tage verschwunden gewesen, bevor die Katastrophe da war.
Das konnte natürlich daran liegen, daß die Terroristen, bei denen er sich jetzt nachweislich befand, ihm keine Möglichkeit gelassen hatten, vor der Aktion Verbindung aufzunehmen. Das wäre an und für sich logisch. Aber Hamiltons Verhalten bei dem gewaltsamen Banküberfall war gelinde gesagt schwer zu akzeptieren. Loge Hecht hatte sich die Video-Aufzeichnung aus der Bank mindestens hundertmal angesehen. Inzwischen kannte er sie auswendig,
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