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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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spöttischen und trotzigen
Mund und die Harmonie der Bewegungen, die nur ein gesunder, gelenkiger Körper
zeigt. Tapfer kämpfte sie gegen die Unbilden des Lebens. Als sie Witwe geworden war, beschloß
sie, die Herberge, so gut es ging, zu halten, auch die Felder zu bestellen, die
beim Hause lagen und die der Krieg allmählich verwüstete, so daß sie mit der
Zeit einer Grabstätte oder einem Sumpfloch glichen. Sie ging nicht fort, hütete
das einzige, was sie besaß, und trachtete danach, die Not zu ihren Gunsten zu
nutzen. Sie verkaufte den Soldaten Nahrung und Getränke, ließ zu, daß sie in
der Herberge würfelten, entlockte ihnen ein armseliges bißchen Soldatengeld,
indem sie ihnen gab, was sie nicht hatten. Sie bemühte sich, ihren Sohn aus dem
Hause zu bringen und von den Soldaten fernzuhalten, wann immer sie konnte, aber
sie konnte nicht immer. Ich sprach mit ihr darüber. „Seinetwegen tu ich's
ja", antwortete sie mir ruhig. „Sein Leben wird schwer sein, wenn er mit
nichts anfängt."
    Und nun also hatte ich erfahren, daß
sie den Soldaten zu Willen war. Vielleicht mußte sie es, vielleicht konnte sie
sich nicht genug wehren, vielleicht hatte sie einmal nachgegeben, und später
hatte man sie erpreßt, und sie hatte sich daran gewöhnt, ich weiß nicht, keinen
wollte ich fragen, aber mich quälte das, was ich gehört hatte. Des Jungen
wegen. Ob er es wußte oder erfahren würde? Auch meinetwegen. Solange ich noch
nichts gehört hatte, achtete ich ihre Tapferkeit – anfangs –, und später dachte
ich wie jeder junge Mann, obgleich ich mich meiner Gedanken schämte. Jetzt aber
war sie ein frei fließendes Wasser, Nahrung, die sich bot, in greifbarer Nähe.
Nichts schützte sie mehr, außer meiner Scham, dabei wußte ich, daß die Scham
kein allzu hohes Hindernis ist. Ich band mich deshalb noch enger an den Knaben,
damit ich mich selbst und ihn schützte.
    Ich ließ mich von ihm auf seinen
kindlichen Wegen führen, ging darauf ein, daß wir uns in Kindersprache
unterhielten, auf Kinderweise dachten, war glücklich, wenn mir das vollkommen
gelang, denn dann fühlte ich mich bereichert. Wir bauten uns Pfeifen aus Schilf
und genossen den scharfen, schrillen Ton, der entstand, wenn die grüne Schneide
die Luft aus dem Munde schnitt. Sorgfältig spalteten wir Holunderholz, lösten
das feuchte Mark heraus, um eine Höhlung voll verborgener Stimmen zu gewinnen.
Wir wanden blaue und gelbe Sumpfblumen zum Kranze, damit er sie seiner Mutter
bringe, später überredete ich ihn, damit Pappelzweige zu schmücken – ich wollte
nicht, daß mir häßliche Gedanken kämen.
    „Werden nun an den Zweigen Blumen
aufblühen?" fragte er mich.
    „Das kann schon sein", sagte
ich, und ein bißchen glaubte ich selbst daran, daß der graue Baum sich so mit
Blüten neu beleben werde.
    „Wo ist die Sonne?" fragte er
mich einmal.
    „Über den Wolken."
    „Ist sie immer dort? Auch wenn der
Himmel verhangen ist?"
    „Ja, immer."
    „Können wir sie sehen, wenn wir auf
die Pappel klettern, ganz hinauf?"
    „Nein."
    „Oder auf ein
Minarett?"
    „Nein. Noch über dem Minarett sind
die Wolken."
    „Und wenn man nun ein Loch in die
Wolken schlägt?"
    In der Tat, warum schlagen die
Menschen kein Loch in die Wolken für die Kinder, die die Sonne lieben?
    Wenn es regnete, saß ich mit ihm in
einem der Zimmer des geräumigen Hauses, er führte mich auch auf den Dachboden,
und ein Balken schlug mir wahrhaftig auf den Kopf, er erzählte mir seine
schönen Geschichten von einem großen, großen Schiff – so wie dieses Haus –, das
auf einem endlos breiten Fluß schwimmt, von einer Lieblingstaube, die in
schwülen Nächten über seinem Bett flattert, während er schläft, von der Großmutter,
die nicht sehen kann, die aber alle Geschichten auf der Welt kennt.
    „Auch die vom goldenen Vogel?"
    „Auch die vom goldenen Vogel."
    „Was ist das, ein goldener
Vogel?"
    „Weißt du das denn nicht?" Mein
kleiner Lehrer wunderte sich. „Das ist ein Vogel aus Gold. Der ist schwer zu
finden."
    Später ging ich seltener in das
Haus, meine Gedanken waren nicht rein, und schwer fiel es mir, in seiner
Sprache zu sprechen. Und wenn ich mit ging, verhielt ich mich unnatürlich. Wir
setzten uns in die Küche. Seine Mutter lief herein und hinaus, lächelte uns zu,
wie man zwei Kindern zulächelt. Ich hielt die Augen gesenkt. Ich wollte nicht
essen, nicht trinken, ich lehnte alles ab, was sie mir anbot, wollte anders
sein als die anderen, deshalb, weil ich

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