Der Derwisch und der Tod
doch genauso war.
„Bleib bei uns", schlug mir der
Junge vor. „Warum willst du fort in dem Regen?"
Die Frau lächelte, als sie sah, wie
ich errötete.
Eines Nachts, als eben der Morgen
dämmerte, griff uns der Feind an und vertrieb uns aus unseren Zelten.
Überrumpelt, leisteten wir schwachen Widerstand, rafften in der Eile unsere
Waffen und die nötigsten Dinge zusammen und nahmen Reißaus über die Ebene – in
weißer Unterwäsche, die Hände voller armseliger Soldatenhabe; zum Stehen kamen
wir erst, als es richtig hell wurde und hinter uns keiner zu sehen war.
Der Feind besetzte unser Lager, auch
die Herberge. Sie hoben Gräben aus und sahen uns ohne Furcht entgegen.
Erst sechs Tage später drängten wir
sie zum Flußufer zurück und nahmen den Platz an der Herberge wieder ein.
Da traten zwei von unseren Soldaten
aus dem Hause, der plötzliche Angriff hatte sie in der Herberge überrascht,
oder sie hatten sich eben noch dorthin geflüchtet, und hier hatten sie,
versteckt, die sieben qualvollen Tage verbracht, während der Feind in der
Herberge und um die Herberge herum schaltete und waltete. Die Frau hatte ihnen
Essen gegeben.
Wir waren ihr dankbar, bis die
Soldaten erzählten, die Frau sei auch den feindlichen Soldaten zu Willen
gewesen.
Da trat Schweigen ein.
Ich bat die Vorgesetzten, daß man
den Jungen und seine blinde Großmutter mit einem Wagen in eines der umliegenden
Dörfer bringe.
„Und meine Mutter?" fragte der
Kleine.
„Kommt später."
Sie wurde erschossen, sobald der
Wagen auf der weiten Ebene klein genug geworden war.
Sicher erfuhr der Junge, was mit
seiner Mutter geschehen war, und sicher wurde sein kleines Lied vom Dachboden
bitterer.
Ich erinnerte mich des Knaben und
seiner Angst, während ich in meinem Zimmer saß und meine Gedanken rückwärts
wandte, in meine Kindheit.
Auch in meinem Elternhaus gab es
einen Dachboden. Ich saß, nach vorn gebeugt, auf einem alten, weggeworfenen
Sattel, allein in dieser Welt nicht mehr verwendbarer Dinge, die ihre alte
Gestalt verloren hatten und neue Gestalt annahmen, je nach der Tageszeit und
meinen Stimmungen, nach dem stärkeren oder schwächeren Licht, das sie
verwandelte, nach Wehmut oder Freude in mir. Auf dein Sattel ritt ich meinem
Wunsch entgegen, daß etwas werde, daß sich etwas erfülle aus den nebelhaften
kindlichen Träumen, die sich launisch änderten, unwirklich wie die Dinge im
Halbdunkel des Dachbodens.
Dieser Dachboden schuf an mir,
ebenso wie eine Unzahl anderer Orte und Gelegenheiten, Begegnungen, Menschen an
mir schufen, ich wurde zu dem, was ich bin, in tausend Wandlungen, und immer
schien es mir, als verschwände mit jeder Veränderung alles Frühere, als verlöre
es sich, bedeutungslos geworden, in den Nebeln der verflossenen Zeit. Dann
aber fand ich, immer aufs neue und unerwartet, Züge alles Vergangenen in mir,
wie lebendige Bodenschätze, wie Ablagerungen meiner selbst, und mochten sie
auch alt und häßlich sein, sie wurden mir doch lieb und schön. Diesen neu
entdeckten unverlorenen Teil meines Ichs, der nicht bloß Erinnern war,
verschönerte die Zeit, sie holte ihn zurück aus unerreichbaren Fernen und
vereinigte mich mit ihm. So ergab er sich doppelt: als Teil meines Ichs von
heute und als Erinnerung. Als Gegenwart wie als Anfang.
Auf jenem Dachboden, wo ich, mich
selbst erforschend, die Einsamkeit suchte und Zuflucht vor den offenen Weiten
der Heimat, obgleich ihr meine Liebe noch mehr gehörte als meiner Mutter,
dachte ich oft an den goldenen Vogel aus ihren Geschichten. Ich wußte nicht,
was das ist: der goldene Vogel, aber während ich lauschte, wie der Regen auf
das Schindeldach fiel, während auch der offene Fensterladen im Winde klapperte
und unzählige Augen aus den Ecken lugten, stellte ich mir vor, wie ich meinen
goldenen Vogel fände, gerade wie der Held aus den alten geraunten Geschichten,
und ich wußte, so würde, auf seltsame, unerklärliche Weise, das Glück
Wirklichkeit werden.
Später dachte ich nicht mehr an den
Vogel, das Leben zerstreute die Träumereien der Jugend, die möglich sind im
heißen, ungehinderten Spiel der Vorstellung, in der grenzenlosen Freiheit des
Wünschens, ich dachte nicht mehr an den in Unerfahrenheit geborenen Vogel. Und
er erschien mir von neuem, wie zum Hohne, als mir am schwersten war.
Es war einmal ein Knabe, im
Vaterhaus, über dem Fluß, der träumte goldene Träume, denn er wußte nichts vom
Leben.
Es war einmal ein anderer Knabe, in
der Herberge, in der
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