Der Derwisch und der Tod
meinen toten Bruder betraf. Kann denn etwas,
was unter Menschen geschieht, vollkommenes Geheimnis bleiben?
Dieser Einschnitt drängte mich
zurückzuschauen, zurückzugehen.
Alles wiederholte sich in meiner Erinnerung
unzählige Male, und alles war mir wohlbekannt, dennoch nahm
ich immer von neuem das auseinander, was sich zusammengefügt hatte, bis sich
in diesem quälenden Spiel unerwartete Zusammenhänge und die noch unklare Ahnung
einer Lösung abzuzeichnen begannen. In vernünftigeren Augenblicken schien es
mir, daß dieses ermüdende Kombinieren überhaupt keinen Zweck habe, daß dieses
Suchen nach dem verborgenen Sinn der unbedeutendsten Bewegung oder eines
hingeworfenen Wortes mir nichts einbringen könne, aber ich konnte nicht davon
ablassen, ich ergab mich diesem Drang wie dem Schicksal. Wenn ich alles
zusammensetzte, würde ich sehen, was ich entdeckt hatte. Es glich einem
Würfelspiel – war genau so hoffnungslos, genauso leidenschaftlich. Ich
erwartete nicht einen sicheren Gewinn, aber auch die Ungewißheit hatte ihren
Reiz. Ermutigt wurde ich von den Goldkörnchen, auf die ich stieß, sie drängten
mich, die Goldader zu suchen.
Vielleicht wollte ich so auch die
Furcht abwehren, die mich überfallen konnte. Sie war nicht fern, sie züngelte
um mich wie ein Flammenkreis. Ich schützte mich mit der Illusion, daß ich etwas
unternähme, daß ich mich mit etwas wehrte, daß ich nicht ganz hilflos sei.
Nicht leicht war es, mir Menschen zu vergegenwärtigen, denen ich vor langer
Zeit begegnet war, und sie zu zwingen, daß sie von neuem bekannte Worte
sprächen. In diesem Gespensterreigen, diesem Summen und Raunen und Brodeln, in
diesem zuweilen irrsinnigen Aneinanderknüpfen, gelang es mir aber allmählich,
mich an einem einzigen Gedanken festzuhalten, wie der Seemann sich
festklammert, damit ihn die Sturmwoge nicht unversehens fortreißt.
Wenn ich dann die Knoten entwirrte,
wenn ich daranginge, selbst die Wahl zu treffen, würde ich wissen, ob ich
zufällig in den trüben Strom geworfen worden war oder ob es Ursachen und
Schuldige gab.
In einer
herausgelösten Welt, abgegrenzt durch das unaufhaltsame Rauschen des Regens,
durch das Gurren der Tauben, durch das Grau des wolkenverhangenen Tages oder
das Schwarz der stockfinsteren Nacht, wurde mein Zimmer von Zeugen bevölkert,
die anfangs unkundig und aufgeregt waren, so wie ich, die ich aber allmählich
zu einer bestimmten Ordnung überreden konnte, indem ich sie einzeln vornahm,
wie zu einem Verhör. Ich teilte sie ein in bedeutende und unbedeutende. Die
unbedeutenden waren die, die sich an mir schuldig gemacht hatten, denn sie
waren klare Fälle. Bedeutend waren die, die nicht alles sagten.
Als ich vergegenwärtigt hatte, was
sich vergegenwärtigen ließ, in Gesprächen, bei denen ich und ihre Schatten und
ihre Worte zugegen waren, mußte ich alle Verdachtsmomente und
Mutmaßungen prüfen. Das konnte ich nicht mit Schatten und Worten vollbringen,
denn die blieben immer dieselben. Um mich der Lösung des Geheimnisses zu
nähern, befaßte ich mich mit lebendigen Menschen.
Ich ließ erst eine gewisse Zeit
vergehen, damit sich Vergessen über alles breite. Zum Glück vergessen die
Menschen leicht Dinge, die sie nicht be treffen. Ich gab mir Mühe, jeden davon
zu überzeugen, daß auch ich es vergessen oder verschmerzt hätte oder daß ich eingeschüchtert
sei und mich nur noch dem Beten widmete. Mochte es jeder halten, wie er es
wollte.
Ich rief Mula Jusuf zu mir. Auch ihn
hatte ich bei den einsamen nächtlichen Verhören gezwungen, alles zu
wiederholen, was er gesprochen und getan hatte. Ich war aufgeregt, denn es
handelte sich um ein wichtiges Gespräch. Ich bekannte, gefehlt zu haben, vor
Gott und vor den Menschen, indem ich mich im Unglück unvernünftig benommen
hätte, keineswegs des Amtes würdig, das ich bekleide. Schmerz und Liebe hätten
mich blind gemacht, und das sei meine einzige Rechtfertigung. Ich hätte vergessen,
daß Gott es so gewollt habe und daß er den Bruder oder mich oder uns beide
gestraft habe für Sünden, von denen wir nicht wissen. Mit fremder Hand, aber
nach seinem Willen.
Er hörte gesammelt zu, ohne die
vorsichtige Zurückhaltung, die er gewöhnlich wahrte. Geschah das nun wegen
meiner ruhigen Rede und der leisen Stimme oder weil ihn die Erinnerung an das
eigene Unglück wieder schmerzte – er sah mich frei und offen an. Dennoch war
er beunruhigt, beinahe gereizt.
„Was für Sünden?" fragte er
abweisend.
„Wir werden
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