Der Derwisch und der Tod
es am Jüngsten Tag
erfahren."
„Der Jüngste Tag ist weit. Was tun
wir indessen?"
„Warten."
„Und ist die fremde Hand, mit der
uns Gott straft, schuldig?"
Ich war überrascht. Nie hatte er so
schroff gesprochen, so erbost gefragt. Er hatte mein Bekenntnis unterbrochen
und von sich selbst zu sprechen begonnen. Er dachte an die Soldaten, die seine
Mutter getötet hatten, um ihrer seltsamen Sünden willen, und ihn, der ganz ohne
Sünde war. Er selber führte rasch zu dem, was ich wollte.
„Ich weiß nicht, mein Sohn",
antwortete ich ruhig. „Ich weiß nur, daß jeder vor Gott für alles, was er tut,
Rede und Antwort stehen wird. Und ich weiß, daß nicht alle Menschen schuldig sind,
sondern nur die Schuldigen."
„Es geht mir, wenn ich frage, nicht
um die, die Böses getan haben, sondern um die, denen Böses angetan worden
ist."
„Du fragst, weil es um dich selbst
geht. Dir ist Böses angetan worden. Darum weiß ich auch nicht, was ich
antworten soll. Sage ich, sie seien nicht schuldig, so wirst du dich erzürnen,
und es wäre auch nicht recht. Sage ich, sie seien schuldig, so bestärke ich
dich im Haß."
„In welchem Haß? Wen hasse
ich?"
„Ich weiß nicht. Vielleicht auch
mich."
Er hatte sich am Fenster
niedergelassen, den Blick auf seine verschränkten Finger gesenkt, hinter ihm
war grauer Tag und wolkiger Himmel – ihm ähnlich. Als er die Worte vernahm, die
ich von Hasan gehört hatte, hob er jäh den Kopf und sah mich an, überrascht, verstört,
schroff, wahrhaftig mit Haß. Dann aber wandte er den Blick ab und sprach,
beinahe flüsternd:
„Ich hasse
dich nicht."
„Gott sei es gedankt",
erwiderte ich, darauf bedacht, ihn schnell zu beruhigen, weil ich fürchtete, er
würde davongehen, wie er das früher zuweilen getan hatte. „Gott sei es gedankt.
Ich möchte dir das Vertrauen zurückgeben, wenn es verschwunden ist. Wenn nicht,
um so besser. Ich schätze neue Freundschaften, sie sind Liebe, die wir immer
brauchen, doch alte Freundschaften sind mehr als Liebe, sie sind ein Teil unser
selbst. Du und ich, wir sind zusammengewachsen wie zwei Pflanzen, beide würden
wir Schaden leiden, wenn wir uns trennten, unsere Wurzeln, unsere Zweige sind
verflochten. Und dennoch, es wäre möglich gewesen, daß wir nicht nur auf der
gleichen Scholle des Erinnerns wachsen, jeder sein eigenes Leben lebend. Wir
hätten eins sein gekonnt. Es tut mir jetzt leid um all das, was wir versäumt
haben. Warum haben wir geschwiegen? Dabei wußten wir doch, daß wir beide an das
dachten, was geschehen ist, das kann man nicht vergessen. Mir selbst verarge
ich es mehr als dir, ich bin der Altere, der Erfahrene. Mich rechtfertigt nur,
daß ich wußte, meine Liebe zu dir ist immer dieselbe. Von dir ferngehalten hat
mich dein Drang, allein zu sein. Eifersüchtig hast du dein Unglück gehütet, für
dich allein, so wie die Affenmutter ihr totes Kind an der Brust trägt. Tote muß
man begraben, man ist es sich selbst schuldig. Nur ich konnte dir dabei helfen.
Warum hast du mich nie nach deiner Mutter gefragt? Einzig ich weiß alles von
ihr. Verkrampf dich nicht, verschließ dich nicht, ich werde nichts sagen, was
dir wehtun könnte, ich habe sie ebenso geliebt wie dich."
„Du hast sie geliebt?"
Seine
Stimme war heiser, rauh, gefährlich.
„Hab keine
Angst, ich hab sie als Schwester geliebt."
„Warum als
Schwester? Sie war eine Hure."
Mich erschreckte sein
Gesichtsausdruck, so hatte ich ihn nicht gekannt: hart, erbarmungslos, bereit
zu allem; freilich wußte ich, daß er deshalb grob war und sich selbst quälte, weil
sein Gram durch dieses erste Gespräch über seine Mutter neu auflebte. Mich
überraschte auch die Wildheit, mit der er in seinen Wunden wühlte. Litt er so
sehr?
Ich
erwiderte, um ihn zu beruhigen:
„Du bist ungerecht, weil dir schwer
ums Herz ist. Deine Mutter war eine gute Frau, ein Opfer, keine Sünderin."
„Warum hat
man sie dann umgebracht?"
„Weil die
Leute dumm sind."
Er schwieg, blickte zu Boden, ich
konnte mir vorstellen, wie schwer ihm zumute war, obgleich ich das Schreckliche
seiner Qual schaudernd nur ahnte. Und dann blickte er mich feindselig an und
fragte mich mit einer letzten Hoffnung, daß ich mich nicht würde rechtfertigen
können:
„Und was
tatest du?"
„Ich bat für sie – umsonst. Und ich
brachte dich fort, in ein anderes Dorf, damit du es nicht sähest. Nachher
weinte ich, versteckt, allein, angewidert von den Menschen und sie zugleich
bedauernd, denn einen ganzen Tag
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