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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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oft
selbst hineindrängen, weil wir unseren Helden haben möchten.
    Aus dem, was nicht im Märchen war,
konnte man schließen, es sei nichts Ungewöhnliches an ihm gewesen. In der
Schule war er durch das Feuer der Glaubensschwärmerei gegangen, schon als junger
Mensch studierte er dann Abu Sinas Naturphilosophie und kritische Philosophie
bei einem bettelarmen freigeistigen Denker, deren es im Orient viele gibt und
den er oft mit Liebe und ein wenig Spott erwähnte; er trat ins Leben mit einer
Last, die die meisten von uns tragen: das Beispiel großer Männer vor Augen und
den Wunsch, ihnen nachzueifern, im Herzen jedoch ohne die geringste Kenntnis
von den kleinen Menschen, denen wir ausschließlich begegnen werden. Mancher
schüttelt diese ungeeigneten Vorbilder schneller ab, mancher langsamer,
mancher niemals. Hasan konnte sich schlecht anpassen, er war überempfindlich in
allem, was sein Ureigenstes und was seine Heimat betraf, und er glaubte fest
daran, daß die Tugenden und Werte eines Menschen überall Anerkennung finden
würden. Plötzlich in die reiche Sultansstadt versetzt, mit verwickelten
Verknüpfungen und Beziehungen unter den Menschen, Beziehungen, die nicht anders
als erbarmungslos – wie unter Haien im tiefen Meer – sein konnten, von verlogener
Ehrenhaftigkeit, von glatter Heuchelei, wo alles ineinander verflochten war
wie Spinnfäden und Spinnennetze, verstrickte sich seine jünglingshaft
unerfahrene Anständigkeit in einen wahren Hexenkreis. Mit den nichts mehr
taugenden alten Werkzeugen, mit denen er sich durch das Stambuler Dickicht zu
schlagen versuchte, mit dem naiven Glauben an Rechtschaffenheit, glich er einem
Menschen, der mit bloßen Händen in den Kampf gegen erfahrene, mit
gefährlichsten Waffen ausgerüstete Seeräuber geht. Mit seiner lauteren Heiterkeit
und Ehrenhaftigkeit, mit dem erworbenen Wissen trat Hasan in diesen
Raubtierkäfig – mit dem sicheren Schritt des Ahnungslosen. Da er aber nicht
dumm war, sah er bald ein, auf was für glühende Kohlen er getreten war. Er
hatte die Wahl, alles mitzumachen oder unbemerkt zu bleiben oder wegzugehen. Er
aber dachte, von den harten Stambuler Sitten zum Widerspruch gereizt, eigenwillig
wie auch sonst, immer öfter an seine kleine Heimatstadt und begann ihr stilles
Leben dem aufgewühlten der großen Stadt entgegenzusetzen. Manche spotteten
über ihn, redeten verächtlich von jenem welt-fernen, zurückgebliebenen Vilajet.
„Wovon sprecht ihr da?" fragte er verwundert. „Keine Stunde Weges von
hier gibt es ein Vilajet, zurückgeblieben, wie man es sich kaum vorstellen
kann. Hier, gleich neben euch, gar nicht weit von diesem byzantinischen Glanz
und von den Schätzen, die aus dem ganzen türkischen Reich hergeholt worden
sind, leben eure eigenen Brüder wie Bettler. Und wir, wir sind wie Waisen,
stehen immer auf einer Scheidelinie, sind immer Zankapfel. Ist es da ein
Wunder, daß wir arm sind? Jahrhundertelang suchen wir uns und wollen wir unser
selbst bewußt werden, doch bald werden wir gar nicht mehr wissen, wer wir
sind, wir vergessen schon, daß wir überhaupt etwas wollen, andere erweisen uns
die Ehre, uns unter ihrer Fahne ziehen zu lassen, weil wir keine eigene haben,
sie locken uns heran, wenn wir gebraucht werden, und schicken uns fort, wenn
wir unsere Schuldigkeit getan haben, das traurigste Vilajet auf der Welt, die
unglücklichsten Menschen auf der Welt, wir verlieren unser eigenes Gesicht und
können ein fremdes nicht annehmen, entwurzelt, aber nirgendwo wieder
eingepflanzt, sind Fremde für jedermann, sowohl für die, mit denen wir
verwandt sind, als auch für die, die uns als Verwandte nicht aufnehmen wollen.
Wir leben in der Grenzmark der Welten, auf der Grenzlinie der Völker, in
Schlagweite eines jeden und Sündenbock für jeden. An uns brechen sich die
Wellen der Geschichte wie an einer Klippe. Der eigenen Kraft sind wir
überdrüssig, und aus der Unfreiheit haben wir eine Tugend gemacht: wir sind
edelmütig aus Trotz geworden. Und ihr, ihr seid rücksichtslos aus Wut. Wer ist
da zurückgeblieben?"
    Die einen haßten ihn, die anderen
verachteten ihn, wieder andere wichen ihm aus, und er fühlte sich immer mehr
vereinsamt und sehnte sich nach seiner Heimat. Eines Tages stieß er auf einen
Landsmann, der sich widerlich über die Bosnier lustig machte; er trat auf die
Straße hinaus, beschämt und traurig, über den Landsmann und über sich selbst.
Da hörte er auf einem Markt jene Frau aus Dubrovnik und ihren Mann – sie

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