Der Derwisch und der Tod
Kopf, und
schliesslich werden sie von neuem schläfrig, wollen sich an nichts Geschehenes
erinnern; sie fürchten sich vor Veränderungen, denn die haben ihnen oft schon
Böses gebracht, und leicht wird ihnen ein Mensch lästig, mag er ihnen auch
Gutes getan haben. Ein seltsames Volk, sie ziehen über dich her und lieben
dich, sie küssen dich auf die Wange und hassen dich, sie machen sich über edle
Taten lustig und erinnern sich ihrer über viele Generationen hin, ihr Leben
schwankt zwischen Trotz und dem Drang, Gutes zu tun, man weiß nur nicht, was
wann überwiegt. Böse, gut, sanft, roh, träge, stürmisch, offen, verschlossen,
alles das sind sie und alles, was dazwischenliegt. Über allem aber: Sie gehören
zu mir und ich zu ihnen wie Fluss und Tropfen, und alles, was ich da sage, es
ist, als sagte ich's über mich."
Tausenderlei hatte er an ihnen
auszusetzen, und dabei liebte er sie. Er liebte und schalt sie. Er fing an,
Karawanen nach dem Osten und dem Westen zu führen, ein bißchen aus Trotz – um
seine Verachtung gegenüber den Berufen zu zeigen, die er früher ausgeübt hatte
–, in Wut gebracht von den Vorwürfen der angesehenen Leute, am ehesten aber
tat er es vielleicht deshalb, weil er sich von der Stadt und den Landsleuten
ausruhen wollte – damit er sie nicht hassen lerne, damit er sich nach ihnen
sehne, damit er Böses auch in anderen Ländern sehe. Und dieses ständige
Schweifen, mit einem bestimmten Punkt auf der Erde, der dieser Bewegung Sinn
gibt, der sie zu Aufbruch und Rückkehr macht, nicht aber zum Umherirren,
bedeutete für ihn wahre oder vorgestellte Freiheit, was letztlich auf dasselbe
hinausläuft. – Ohne diesen Punkt, an den man gebunden ist, würde man auch das
Fremde nicht lieben, man hätte keinen Grund zum Aufbruch, denn man wäre dann
nirgendwo.
Dieser mir nicht ganz verständliche
Gedanke Hasans, diese Unausweichlichkeit des Sich-Bindens und die
Beharrlichkeit des Sich-Befreiens, die Notwendigkeit der Liebe zum Eigenen und
das Bedürfnis nach Ver stehen des Fremden, war das seine Art, sich schlecht
und recht mit dem engen Raum auszusehnen und die Sehnsucht nach weiterem Raum
zu stillen? Oder war es ein Wechseln der Maßstäbe, damit die eigenen nicht die
einzigen blieben? Oder war es ein klägliches, beschränktes Fliehen und noch
kläglicheres Heimkehren? (Dies zu begreifen fiel mir auch deshalb schwer, weil
mein Denken in ganz anderen Bahnen lief: Es gibt eine Welt, die den rechten
Glauben hat, und eine Welt, die ihn nicht hat; andere Unterschiede sind weniger
wichtig, und überall fände ich meinen Platz, wo ich nützlich sein könnte.)
Im Frühling des ersten Jahres nach
Hasans Heimkehr aus Stambul kam Herr Luka mit seiner Frau, der Dubrovnikerin,
in unsere Stadt, und alles begann von neuem, mit neuer Kraft und neuen
Schranken.
Auch unsere Stadt war nicht der
rechte Ort für ihre Liebe. Einer von ihnen war immer, hier oder dort, ein
Fremder. Hatte man auch die Umzäunungen der Lateinerstadt und der Muslimstadt
entfernt, so blieben doch ihre eigenen Zäune. Die Frau konnte sich gewiß nicht
mehr dem Selbstbetrug bloßer Freundschaft hingeben. Aber außer Blicken und
freundlichen Worten, so schien es wenigstens, erlaubte sie sich nichts mehr.
Und ihren sündhaften Gedanken, Hasan zu lieben, hatte sie wahrscheinlich bei
der Beichte reumütig bekannt. Hasan ging weiter auf seine Reisen und kehrte
zurück mit seinen Wünschen, die sich in den langen Monaten seiner Abwesenheit
noch gesteigert hatten. Gab diese seltsame Liebe seinem ständigen Aufbrechen
und Wiederkehren den Sinn? Empfand er ihretwegen das Schicksal des
Gebundenseins, und erklärte sie seinen unablässigen Drang, sich zu befreien?
Das ist die unvollständige Wahrheit
über Hasan, das, was ich gehört, erfahren, weitergedacht, ergänzt, zu einem
unklaren Ganzen verbunden habe. Es ist die ein wenig holprige Geschichte eines
Menschen ohne rechte Heimat, ohne rechte Liebe, ohne rechten Gedanken, eines
Menschen, der die Unsicherheit seines Lebensweges als menschliches Schicksal
hingenommen hat, ohne darüber zu klagen, daß es so sei. Vielleicht liegt eine
gewisse angenehme Heiterkeit, auch Tapferkeit in diesem Hinnehmen, aber ich
nenne es Scheitern.
Wertvoll ist mir diese Erkenntnis,
ich sehe, er ist nicht stärker als ich.
Damals aber war ich behext, und
lieber ersann ich Märchen von meinem großen Freund: Es war einmal ein Held.
Mit seinem Wissen und seinem Geist stellte er alle geistlichen
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