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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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träume von Bestechlichen, die liebe er am meisten, denn zu ihnen
gebe es Wege. Am schlimmsten seien die Ehrenhaften, die keine Bedürfnisse
hätten, keine menschlichen Schwächen, sondern nur von einem höheren Gesetz
wüßten, das dem gewöhnlichen Menschen kaum begreiflich sei. Kein anderer könne
soviel Böses anrichten. Sie brächten soviel Haß hervor, daß er für hundert
Jahre ausreichte. Und unsere, die jetzigen? Sie seien nicht dies und nicht das.
Klein in allem. Sie verstünden es nicht, böse zu sein, und verstünden es nicht,
gut zu sein. Mit Maßen seien sie sowohl hart als auch umsichtig. Die Stadt sei
ihnen verhaßt, und zugleich hätten sie Angst vor ihr. Darum blickten sie scheel
auf die Städter und rächten sich, wo sie nur könnten. Oder wo sie meinten, daß
sie es könnten. Sie wären schrecklich, wenn sie alles zu tun wagten, was sie
möchten, doch sie hätten immer Angst, Fehler zu machen. Das könne geschehen,
wenn sie lockerließen, und ebenso, wenn sie den Bogen überspannten. Am besten
mache man sie mit einer Drohung weich, wenn man diese leise ausspreche und
nicht bis zum Ende enthülle, denn sie könnten sich nicht auf sich selbst
verlassen, fänden in sich selbst keinen Halt, keinen Wert, hingen immer vom
Zufall und von Höheren ab, und es bestehe deshalb immer die Möglichkeit, daß
sie in jemandens Rechnung der nicht aufgehende Rest seien. Alles in allem, Erbärmlichkeit
und Elend und darum manchmal sehr gefährlich. Alles, was er, Alijaga, wünsche,
sei, daß er Hadschi Sinanudin helfen könne, und ob die da blieben oder ob der
Teufel sie hole, das sei ihm gleich.
    Seine Auffassung wich von der meinen
ein wenig ab, aber es wäre sinnlos gewesen, ihm zu widersprechen, solange er
mich nicht behinderte.
    Er bat mich darum, daß Mula Jusuf
über Nacht bei ihm bleibe. Er habe keinen Knecht im Hause.
    Der Jüngling senkte schnell die
Augen, um die Freude zu verbergen, als ich ihm sagte, er solle bei Alijaga
bleiben.
    Ein trüber Spätnachmittag, lastende,
unbewegliche Wolken, Stille über der Stadt.
    Den ganzen Tag hatten die Menschen
etwas erwartet, mit gespanntem Gehör, weit geöffneten Augen, unaufmerksam in
den alltäglichen Gesprächen und Arbeiten, allzu still war es nach der
Aufregung des Morgens, drohend still, als hätten sich feindliche Heere in ihre
Lager zurückgezogen, um die Nacht oder den Morgen abzuwarten und dann den
Kampf zu beginnen. Und gerade diese Stille, diese Starre, dieses verlassene
Schlachtfeld ohne Ruf, ohne Fluch, ohne Drohung schuf eine Spannung, die von Stunde
zu Stunde wuchs, und es würde mit einem großen Bersten enden. Sie blickten
einander an, blickten auf die Vorbeigehenden, blickten die Gasse entlang,
warteten. Alles konnte das Zeichen sein. Auch ich blickte die Gasse entlang.
Noch hatte es nicht begonnen. Aber ich wartete, wir warteten, etwas würde
geschehen, bald, es rumorte in den Grundfesten der alten Stadt, kaum hörbar
raunte ein Wind von den Höhen, ein Knirschen lag in der Luft.
    Schreiend, wie auf der Flucht,
schossen Vögel über den schwarzen Himmel, die Menschen schwiegen, das Blut
schmerzte mir vom Warten.

15
    Die Wahrheit ist mein. Die Wahrheit spreche ich.
    Lange fand ich in dieser Nacht keinen
Schlaf. Und dann schlief ich ein und wachte wieder auf, und das geschah in
kurzen Abständen, immer von neuem, den gleichen Gedanken spann ich im Schlaf
wie im Wachen fort, es gelang mir nicht, den Schlaf vom Wachen zu trennen, ich
war überzeugt, ich hätte kein Auge zugetan und würde auch den Rest der Nacht
so durchwachen, halb angezogen, damit das Geschehen mich nicht unvorbereitet
fände.
    Ich brachte es nicht fertig,
folgerichtig nachzudenken, vielleicht des Schlafes wegen, der den Faden abriß
und die Ordnung störte, oder wegen der Ungeduld, die mich trieb, so schnell wie
möglich zum Wichtigsten zu gelangen, und so erlebte ich unablässig Begegnungen
mit ihnen, mit den dreien, am meisten mit dem Kadi; gelassen, ohne Aufregung,
beobachtete ich dann alle ihre Regungen: Überraschung, Furcht, Hoffnung; und
ich verlängerte diesen Augenblick, so sehr ich nur konnte, diesen wunderbaren
Augenblick, da alles sich wendete: Bis jetzt ist nur die Wurzel abgerissen,
sie haben es noch nicht ganz begriffen, sie bleiben bei der alten Gewohnheit,
sind noch nicht hilflos und untertänig. Ihre Angst, das ist das Schöne. Nicht
das Abfinden mit dem Sturz. Die Angst, die Ungewißheit, ein Strahl von
Zuversicht, Unruhe in den Augen. Oder noch besser (ich

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