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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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auch mich auf Abstand. Es wäre gut, du vergäßest, was du weißt."
    „Ich habe es vergessen. Es geht mich
nichts an."
    „Nicht so! Es geht dich an, aber du
sollst es vergessen. Alles, was ich getan habe, ist nicht nur meine
Sache."
    Er überraschte mich mit seiner
Antwort und bewirkte, daß ich mich von neuem mit der Vorsicht und der
Festigkeit wappnete, die ich eben verloren hatte.
    „Laß mich fort aus der Tekieh!"
stieß er hervor. Es war keine Bitte, sondern eine Forderung. „Immer wenn du
mich ansiehst, werde ich dich daran erinnern, daß ich dich verraten
könnte."
    „Du wirst mich an den Schmerz
erinnern, den du mir zugefügt hast."
    „Um so schlimmer. Laß mich fort,
damit wir einander vergessen. Damit wir uns von der Angst befreien."
    „Fürchtest du mich?"
    „Ja. Wie du mich."
    „Ich kann dich nicht fortlassen. Wir
sind mit derselben Kette gefesselt."
    „Du richtest dein Leben und mein
Leben zugrunde."
    „Geh in die Tekieh."
    „So kann man nicht leben. Wir folgen
einander auf den Fersen wie der Tod. Warum hast du mich nicht sterben
lassen?"
    „Geh in die Tekieh."
    Er ging fort, bedrückt.

16
    An jenem Tage werden wir zur Hölle sprechen: Hast du dich gefüllt?
    Und die Hölle wird antworten: Sind da noch mehr?
    Schnee, Regen, Nebel, tiefhängende Wolken.
Die Vorboten des Winters drohen lange, der Winter wird endlos sein, beinahe bis
zum Georgstag. Ich habe daran gedacht, wie der Mufti wohl schon im voraus
leidet: sechs Monate Bangen, sechs Monate Frieren. Ich begreife nicht, warum er
nicht fortgeht von hier. Ich habe Anweisung gegeben, daß man Buchen- oder
Eichenholz für ihn beschafft, daß man die Schornsteine und die Öfen umsetzt,
und daß von außen, vom Korridor aus, geheizt wird, Tag und Nacht, die Zimmer
wiederum sollen mit Wacholderzweigen und Weihrauch geräuchert werden.
    Auch ich fröstele jetzt leicht und
suche die Wärme. In meinem und in Hafiz Muhameds Zimmer knistert behaglich das
Feuer in dem irdenen Ofen mit den kleinen roten und blauen Kacheln. Ich habe
auch einen neuen Hausknecht gedungen, Mustafa schafft es nicht mehr, er ist
auch unerträglich griesgrämig geworden, brummt und murrt wie ein alter Bär. Und
ich ertrage nicht mehr wie einst ein kaltes Zimmer, besonders wenn ich vom
Gerichtshaus zurückkehre, fröstelnd und durchnäßt, voll Feuchtigkeit wie ein
Scheuerlappen.
    Manches hat sich in meinem Leben
geändert, aber die früheren Gewohnheiten habe ich beibehalten. Ein wenig mehr
Bequemlichkeit habe ich mir erlaubt, aber wirklich nur ein wenig, und einen
schlichteren Umgang mit den Menschen, vielleicht weil ich nicht bedroht bin
und weil mir Würde und Rang des Kadis ein angenehmes Gefühl der Sicherheit
geben. Auch Macht, die ich nicht suche, aber ich sehe sie sogar in Hafiz
Muhameds Blick, wenn ich am Abend in sein Zimmer trete, um ihn zu fragen, wie
es ihm gehe und ob er etwas brauche.
    Das Amt des Kadis läßt mir nicht
viel Zeit, und lange hatte ich keinen Blick in diese Aufzeichnungen geworfen.
Als ich mich dann eines Abends ihrer erinnerte, zweifelte ich beinahe an meinem
Gedächtnisvermögen, da ich einige der Blätter las. War es möglich, daß ich das
geschrieben und daß ich wirklich so gedacht hatte? Am meisten verwunderte mich
die Verzagtheit. Hatte ich so sehr an der göttlichen Gerechtigkeit zweifeln
können?
    Anfangs hatte es mich überrascht,
als mir die Personen, die in der Stadt etwas zu sagen hatten, das Amt des Kadis
anboten. Nie hatte ich daran gedacht, auch nie gewünscht, Kadi zu sein. Unter
anderen Umständen hätte ich es vielleicht sogar abgelehnt, nun aber erschien es
mir als Rettung. Denn ich fühlte mich plötzlich, nach allem, was in der
Čaršija geschehen war, müde und matt, war mir unangenehm dessen bewußt,
daß ich in einer Falle saß – und nicht nur ich und nicht erst seit gestern.
Der Mensch wird allzusehr bedroht und braucht Schutz.
    Seltsamerweise fand ich mich rasch in
die neue Lage, so als hätte sich mir endlich ein alter Traum erfüllt.
Vielleicht war das der goldene Vogel aus den Kindergeschichten, vielleicht
hatte ich längst, von jeher, im stillen, im geheimen auf ein solches Vertrauen
gewartet. Daß ich diese nebelhafte Sehnsucht nicht hatte klare Gestalt annehmen
lassen, war sicher deshalb geschehen, weil ich die Enttäuschung fürchtete, wenn
sich die Sehnsucht nicht erfüllte, und so hatte ich sie in einen dunklen,
versteckten Raum der Seele gedrängt, wie alle anderen gefährlichen Wünsche.
    Ich erhob mich

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