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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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seiner kraftvollen, schönen
Gestalt, dem männlichen Gesicht, der Herzlichkeit des Lächelns, den breiten
Schultern, den starken Armen, der Haltung, die an einen Seiltänzer erinnerte.
Doch sobald er aufstand, brach all die Schönheit zusammen, und auf das
Wägelchen zu humpelte ein Krüppel, den man unmöglich ohne Bedauern ansehen
konnte. Zum Krüppel gemacht hatte er sich selbst. In der Trunkenheit hatte er
ein scharfes Messer in seine beiden Schenkel gestoßen, immer wieder, bis er
alle Adern und Muskeln zerschnitten hatte, und auch jetzt hieb er, wenn er
betrunken war, das Messer in die verdorrten Stiele und ließ keinen nahe
herankommen, und es konnte ihn auch keiner überwältigen, soviel Kraft hatte er
in den Armen behalten. „Džemail ist unser wahres Abbild, unser bosnisches
Beispiel", sagte Hasan. „Kraft auf verdorrten Stielen. Henker seiner
selbst. Überfluß ohne Richtung und Sinn."
    „Was sind wir also? Narren?
Unglückliche?"
    „Die kompliziertesten Menschen der
Welt. Mit niemand sonst hat die Geschichte so ihren Scherz getrieben wie mit
uns. Bis gestern waren wir das, was wir heute vergessen wollen. Aber wir sind
auch nicht etwas anderes geworden. Wir sind auf halbem Wege stehengeblieben,
hilflos staunend. Nirgendwo können wir noch hin. Losgerissen sind wir, aber
nicht woanders aufgenommen. Wie ein Flußarm, den eine Sandbank vom Fluß selbst,
von der Mutter, getrennt hat, so daß er ohne Zufluß und ohne Mündung ist, zu
klein, um ein See zu werden, zu groß, als daß ihn die Erde aufsaugte. Mit einem
unklaren Gefühl der Scham wegen unserer Herkunft und der Schuld wegen unserer
Abtrünnigkeit wollen wir nicht zurückschauen und haben doch auch nichts, worauf
wir den vorausschauenden Blick richten könnten; deshalb versuchen wir die Zeit
anzuhalten – aus Angst von irgendeiner Entscheidung. Verachtet werden wir von
unseren Brüdern wie von denen, die später gekommen sind, wir aber wehren uns
durch Stolz und Haß. Wir wollten uns bewahren, und so haben wir uns verloren –
wir wissen nicht mehr, wer wir sind. Unglücklicherweise haben wir diese unsere
Starre liebgewonnen und wollen nicht aus ihr heraus. Für alles aber muß man
zahlen, auch für diese Liebe. Sind wir denn zufällig so übertrieben weich und
übertrieben hart, rührselig und eiskalt, fröhlich und traurig, immer bereit,
jedermann zu überraschen, auch uns selbst? Ist es Zufall, daß wir Schutz hinter
der Liebe suchen, der einzigen Gewißheit in dieser Unbestimmtheit? Lassen wir
ohne Grund das Leben über uns hinweggehen, geschieht es ohne Grund, daß wir uns
vernichten, anders als Džemail, aber genauso sicher? Und warum tun wir's?
Deshalb, weil es uns nicht gleichgültig ist. Und wenn es uns nicht gleichgültig
ist, so heißt das, daß wir Anstand haben. Und wenn wir Anstand haben, gebührt
unserer Narrheit alle Ehre!"
    Der Schluß kam ziemlich unerwartet,
so wie die ganze Überlegung seltsam anmutete. Aber sie paßt, denn sie kann
alles erklären, was der Mensch tut oder nicht tun will. Ich litt nicht an
dieser Geschichts- und Heimatkrankheit, weil ich durch den Glauben an die ewige
Wahrheit und an die weiten Räume der Welt gebunden war. Sein Standpunkt war
eng, aber ich stritt nicht mit ihm, weil ich wichtigere Sorgen hatte, weil er
mein Freund war und weil ich meinte, sein Gedanke sei zwar ketzerisch, aber
ungefährlich, denn er ließ sich selbst keine Luft. Diese ausgedachte Qual
erklärte mir sogar manches – sie war eine Art dichterischer Erklärung für
sein Scheitern oder die Rechtfertigung eines großen klugen Kindes, das wohl weiß, daß es sein
Leben für nichts vertut. In der Tat, was konnte er, reich und zugleich
anständig, sonst anfangen? Er hatte den Reichtum nicht selbst erworben, achtete
ihn auch nicht und mochte ihn wiederum nicht entbehren. Deshalb hatte er es
künstlich so eingerichtet, daß ihm das Leben zusetze, und diese kleinen, interessanten
Lügen ersonnen, um sein Gewissen zu beruhigen.
    Auch darin täuschte ich mich, wie in
vielem, was Hasan betrifft.
    Wieder ist viel Zeit vergangen, in der ich
nichts aufgeschrieben habe. Das Leben ist schwierig geworden.
    Und je schwieriger es wurde, desto
mehr dachte ich an Hasans Schwester. Ich erinnerte mich ihres seltsamen
Blickes und der Hände, die ihren Kummer verrieten. Sie wies mich ab, als ich
sie besuchen wollte, um die häßlichen Gerüchte zu entkräften, die über mich
umliefen. Darauf ließ ich ihr bestellen, ich würde um ihre Hand bitten, wenn

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