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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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aufgelegt.
    „Schon zum zweitenmal weist du mich
zurück", erwiderte er lächelnd.
    „Was könnte ich dir sagen? Ich habe nichts
erfahren."
    „Auch nicht, warum er eingesperrt
ist?"
    „Auch das nicht."
    „Dann weiß ich mehr als du."
    Es fiel nicht leicht, ihn
abzuweisen.
    Dann erzählte er eine seltsame
Geschichte, die ich kaum begriff mit meiner beschränkten und einseitigen
Erfahrung – meiner kindlichen Unkenntnis der Welt, in der ich lebte.
    „In der Nähe der Stadt wohnte ein
kleiner Grundbesitzer", erzählte Hasan. „Er hat gelebt, jetzt ist er tot.
Ob er einen wirklichen Grund hatte, vielleicht von etwas schwer getroffen war,
oder ob er naiv war oder anständig, ob er ein Hitzkopf war, ein Streithahn, ein
Schwärmer, ob er jemanden als Rückendeckung oder ob er Beweise hatte, ob er
verrückt war oder ob es ihn nicht kümmerte, was mit ihm geschehen würde
schwerlich wird man das herausbekommen, es ist jetzt auch nicht wichtig,
jedenfalls hat der Mann angefangen, die schlimmsten Dinge über be stimmte
Leute zu sprechen, die zu den Mächtigen gehören, hat sie laut und deutlich der
Dinge beschuldigt, von denen alle wissen, die man aber nicht beim Namen nennt.
Man hat ihm gütlich nahegelegt, er möge Vernunft annehmen, er aber hat gemeint,
sie hätten Angst vor ihm, und hat nicht aufgehört, das zu tun, was keinem
Nutzen bringt.Da schickten sie Sejmenen [19] zu ihm, die holten ihn gefesselt in
die Stadt, man sperrte ihn auf der Festung ein, schrieb Protokolle von
Verhören, in denen der Unglückliche viele Sünden bekannte, er führte darin
seine eigenen Worte gegen den Glauben, den Staat, den Sultan, die hohen Beamten
an und erklärte, er habe in Zorn und Raserei gesprochen. Er gestand sogar,
Verbindung zu den Aufständischen in der Krajina gehalten zu haben, er hätte
ihnen Hilfe geschickt und sein Haus wäre Treffpunkt ihrer Boten und Vertrauten
gewesen. Man schickte ihn mit allen Protokollen zum Wesir nach Travnik, doch
unterwegs wurde der Mann niedergesäbelt, weil er zu fliehen versuchte. Jetzt
mag, was den Fluchtversuch betrifft, jeder denken, was er will, vielleicht hat
er wirklich fliehen wollen, vielleicht auch nicht, übrigens war es für ihn ein
und dasselbe, denn hätten ihn nicht die Sejmenen niedergesäbelt, hätte es der
Wesir getan. Und ich würde dir auch gar nicht davon erzählen – er war nicht
der erste und wird nicht der letzte gewesen sein –, wenn nicht dein Bruder in
die Sache einbezogen wäre. Deinen Bruder aber kannte der Mann überhaupt nicht,
er hatte ihn nie gesehen, hatte nie erfahren, daß es einen jungen Menschen
dieses Namens gibt, und das Schicksal des Mannes wäre dasselbe geWesen, auch
wenn sich dein Bruder nicht eingemischt hätte. Sie kannten einander nicht,
begegneten einander nie, hatten nichts miteinander zu tun, waren von ganz
unterschiedlicher Art und doch in einem ähnlich: In beiden lag etwas
Selbstmörderisches. Unglücklicherweise arbeitete dein Bruder beim Kadi, unglücklicherweise,
sage ich, denn gefährlich und schwierig ist die Nähe der Mächtigen, und als
Schreiber für vertrauliche Sachen geriet er irgendwie an geheimgehaltene
Schriftstücke. Wie er an sie geriet, kann heute keiner mehr erfahren, gewiß
aber zeigte man sie ihm nicht, er stieß zufällig auf sie, und es war die
verhängnisvollste Sache, auf die er stoßen konnte."
    „Worauf stieß er denn?"
    „Auf das Protokoll vom Verhör eines
Häftlings, geschrieben, noch ehe der Mann verhört, ehe er in die Stadt
gebracht, ehe er gefangengesetzt worden war, und darin liegt sein Verhängnis
und die Gefahr. Begreifst du, sie hatten von vornherein gewußt, was der Mann
sagen, was er gestehen, was ihm den Hals brechen würde. Gut, auch das ist
nicht so ungewöhnlich, sie hatten es eilig, alles mußte rasch und sicher
erledigt werden, und alles wäre auch dabei geblieben, hätte der junge
Schreiber das im voraus fertiggestellte Protokoll dort gelassen, wo er es
gefunden hatte. Und vergessen, was er gesehen hatte. Aber das tat er nicht.
Freilich, was er tat, weiß ich nicht, vielleicht hat er es jemandem gezeigt,
vielleicht hat er es ausgeplaudert, vielleicht
haben sie ihn mit diesen Schriftstücken überrascht, jedenfalls wurde er
eingesperrt. Er wußte zuviel."
    Ich hörte ihm ungläubig zu. Was
bedeutete das? War es Wahnsinn? Grauen, wie es uns in schweren Träumen packt?
Ein finsterer Lebensbereich, in den mancher niemals hineinblickt? Es mag
unglaubhaft scheinen, daß jemand von so vielem

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