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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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sprechen
können?"
    „Ich weiß nicht. Wie mit einem
Kind."
    Diese Worte brauchten nichts zu
bedeuten, aber mich beeindruckte die Art, in der er sie aussprach, seine Stimme
erinnerte an eine tiefe Flöte, ohne Nebengeräusch und Beiklang, ohne unruhiges
Atemholen, mit einem Lächeln, das traurig war über etwas Geschehenes und
zugleich sanft und klug und befreiend, und ich dachte mit Verwunderung zum
ersten Male, daß doch in ihm etwas sehr Reifes und Volles lebe, was sich nur in
Augenblicken des Selbstvergessens enthüllt. In solchem Mondschein, wie er uns
jetzt mit Unruhe umspülte. In Augenblicken, da einem schwer ums Herz ist. Diese
runde, Vertrauen einflößende Stimme prägte sich mir ein und dieses beruhigende
Lächeln und diese vormitternächtliche Stunde, da sich Geheimnisse auftun, alles
blieb mir im Gedächtnis, weil etwas Starkes auf mich wirkte, was sich dennoch
nicht vollkommen fassen ließ. Weil mir schien, als hätte ich auf einmal, ganz
unverhofft erlebt, daß ein Mensch seine verborgene Seite zeigt, die keiner vor
mir gesehen hat. Ich weiß nicht, vollzog sich da eine Geburt oder eine
Enthüllung, so wie eine Schlangenhaut abgestreift wird, ich weiß auch nicht,
was er zeigte, doch ich bin überzeugt, daß es ein ganz seltener Augenblick war.
Ich dachte auch darüber nach, daß meine eigene Aufregung wohl imstande war,
jedes Wort, jede Bewegung, jedes Erlebnis umzubilden, die Erinnerung aber
blieb.
    Da stand er auf, es war ihm
gelungen, die Knoten der Peinlichkeit zwischen uns zu lösen, er hatte das
rechte Wort gefunden, das schön und lange nachklang, und konnte gehen. Die
grundlose Aufregung, die mich eben noch beherrscht hatte, ließ von mir ab, an
ihre Stelle trat eine häßliche Absicht, verwunderlich mehr deswegen, weil sie
so unmittelbar nach der Begeisterung geboren wurde, als darum, daß sie
überhaupt auftrat.
    Im Gehen zog er etwas Eingewickeltes
aus der Tasche und legte es auf die Bank. „Für dich", sagte er.
    Und ging.
    Ich begleitete ihn bis zum Tor. Und
als er hinter der Ecke verschwunden war, folgte ich ihm. Ich ging ganz leise,
nahe an Mauern und Umfriedungen, bereit, sofort stehenzubleiben, wenn er sich
umwenden sollte, er würde dann meinen, ich sei ein
Schatten. Er verlor sich im Dunkel  c 1 r Gäßchen, ich folgte ihm nach dem Hall
seiner Schritte, meine blieben unhörbar, weich waren sie und verborgen,
niemals früher hatte idi die Schritte so gesetzt, ich entdeckte den blauen
Mintan und die hohe Gestalt wieder auf einem mondbeschienen Wegekreuz, ich
folgte ihm, in weitem Bogen, wie mir schien, und dann bemerkte ich enttäuscht,
wie sich das scheinbare weite Pendeln verengte und einem wohlbekannten Ort zustrebte.
Ich blieb an der Moschee stehen, er schlug mit dem Türklopfer ans Tor seines
Hofes, und jemand öffnete ihm, als hätte er ihn hinter dem Tor erwartet. Wäre
er in ein fremdes Haus getreten, so hätte ich geglaubt, er wäre bei dem
eingekehrt, den er mir nicht verraten hatte. So aber wußte ich nichts.
    Ich kehrte in die Tekieh zurück,
müde von etwas, was nicht Erschöpfung des Körpers war.
    Auf der Bank lag Hasans Geschenk:
das „Buch der Geschichten" von Abul Faradsch, in einen kostbaren
Saffianeinband mit vier goldenen Vögeln in den Ecken. Es überraschte mich, daß
auch das Seidentuch, in das er das Buch eingehüllt hatte, mit vier goldenen
Vögeln bestickt war. Das hatte er nicht rasch unterwegs gekauft.
    Einmal hatte ich im Gespräch, mich
meiner Jugend erinnernd, Abul Faradsch erwähnt. Hatte es erwähnt und
vergessen. Er hatte es nicht vergessen.
    Ich setzte mich auf die Bank und
blickte, das Buch im Schoß haltend, mit den Fingern über das glatte Leder
streichend, auf den im Mondlicht erstarrten Fluß, lauschte auf den
Stundenschlag vom Uhrturm und hätte, seltsam besänftigt,am liebsten geweint.
Seit meiner Kindheit, seit einem fernen Bajram-Fest [20] , das sich schon aus dem
Gedächtnis verloren hatte, war dies das erstemal, daß mir jemand ein Geschenk
brachte, das erstemal, daß jemand an mich dachte. Er hatte sich ein Wort von
mir gemerkt und sich in einem fernen Land daran erinnert.
    Es war eine ganz ungewöhnliche
Empfindung: wie ein frischer, sonniger Morgen, als wäre ich von weiter Reise
nach Hause zurückgekehrt, als strahlte grundlose, doch mächtige Freude auf mich
herab, als wäre die Finsternis gewichen.
    Es schlug Mitternacht, die
Nachtwächter ließen sich hören – wie nächtliche Vögel –, die Zeit verging, ich
aber saß wie

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