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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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nicht mehr schläft. Als wolltest du von nichts anderem
wissen."
    Vielleicht traf das zu, vielleicht
hatte er recht. Mit diesem Gedanken an einen Außenstehenden versuchte ich mir
wohl die schreckliche Last zu erleichtern. Nur, das ganze Gespräch hätte anders
verlaufen sollen, ich glaubte auch zu wissen, wie. Schon lag mir die
unvernünftige, kindliche Frage auf den Lippen: Was soll ich tun, Guter, der du
dich über die Mahnungen deiner Vernunft hinweggesetzt hast und einem anderen
Menschen entgegengehst, sag mir, was ich tun soll! Ich bin bestürzt über deine
Enthüllung, so als hätte man mich an den Rand eines Abgrunds geführt, ich will
aber nicht hinunterschauen, ich will zu dem zurückkehren, was ich gewesen bin, oder auch nicht
zurückkehren, doch ich möchte den Glauben an die Welt retten, und das ist
unmöglich, solange dieses schreckliche, tödliche Mißverständnis nicht
beseitigt ist. Sag mir, wie soll ich beginnen?
    Ich war mir in diesem Augenblick
nicht bewußt, daß ich einfach nicht bereit war, den Bruch zu vollziehen, daß
ich beharrlich die seit langer n eingespielten Verhältnisse zu bewahren
trachtete, nicht bedenkend, daß ich damit die Schuld auf meinen Bruder warf,
denn einer mußte schuldig sein. Wie gut wäre es gewesen, hätte ich zu sprechen
begonnen, hätte ich aufgehört, mich vor ihm und vor mir selbst zu verstecken.
Ich weiß nicht, was geschehen wäre, vielleicht hätte er mir gar nichts zu sagen
vermocht, vielleicht hätte er mir mit nichts helfen können, aber der Krampf
meiner Seele hätte nachgelassen, und ich wäre nicht alleingeblieben. Und
vielleicht hätte ich den Weg vermieden, den später mein Leben nahm, wenn ich
nur seine größere und bittere Erfahrung angenommen, mich nicht in meine Qual
verschlossen hätte. Dennoch war auch das nicht gewiß, denn unsere Absichten
gingen gänzlich auseinander, er wollte einen Menschen retten, ich war auf die
Rettung einer Idee bedacht. Freilich, so dachte ich erst später, in diesem
Augenblick aber war ich verstört, verbittert, unbewußt erbost auf ihn, weil er
mir das, wovon ich nichts gewußt, enthüllt hatte, es wurde mir deutlich, daß
ich alles würde tun müssen, damit die Wahrheit an den Tag käme, jetzt mußte
ich es; hätte ich es nicht gewußt, so hätte ich warten können, das Nichtwissen
hätte mich geschützt. Jetzt gab es keine Wahl mehr, ich war durch die Wahrheit
verurteilt.
    Gemartert von der Sorge um das, was
kommen mußte, morgen, übermorgen, in nicht zu ferner Zeit, dachte ich dennoch
daran, wie schwer es doch sei, jetzt auseinanderzugehen. Ob er wortlos ginge,
ob wir einander etwas ganz Alltägliches sagten, ob wir uns kalt und erbost
trennen würden? Ich finde nie das rechte Wort und das rechte Verhalten, wenn meine
persönlichen Dinge in Frage stehen; sonst aber, bisher, hatte ich immer gewußt,
was ich sagen und wie ich mich verhalten solle. Etwas Unangenehmes blieb von
diesem Gespräch zurück, etwas wie bedrückende Ahnung und Unzufriedenheit
darüber, daß nicht alles gesagt worden war, doch unwillkürlich hütete ich mich
davor, Kälte und Gekränktheit zu zeigen, denn ich wußte nicht, ob ich diesen
Menschen nicht noch brauchen würde. Ich sage: unwillkürlich, denn es handelte
sich nicht um überlegte List, ich wußte auch nicht, auf welchem Wege er mir
nützlich sein könnte, denn ich sah keinen Weg, aber eine innere Vorsicht hieß
mich, ihn nicht zu verlieren. Vielleicht würde ich sein Wohlwollen audi wegen
der Angelegenheit brauchen, die ich mit seiner Schwester besprochen hatte. Darum
beendete ich das Gespräch so, daß es von neuem begonnen oder auch nicht
begonnen werden konnte, wie es Gott gefiele.
    Ich sagte, mit dem ehrlichen
Wunsche, daß meine Stimme alltäglich und freundlich klinge: „Es ist spät. Du
bist sicher müde."
    Er überraschte mich mit dem, was er
sagte und tat, etwas Unerwartetem und doch Natürlichem, und es war so einfach,
daß es gerade deswegen seltsam war.
    Er legte seine langen, kräftigen
Finger auf meine Hand, die auf der Sessellehne lag, er berührte sie ganz
leicht, so daß ich gerade die angenehme Kühle seiner Haut und der
weichen Fingerspitzen fühlte, und er sagte ruhig, mit leiser, tiefer Stimme,
einer Stimme, mit der er auch Liebesworte sprechen mochte:
    „Es scheint, ich habe dich gekränkt,
das habe ich nicht gewollt. Ich dachte, du wüßtest mehr von der Welt und den
Menschen, viel mehr. Ich hätte anders mit dir sprechen sollen."
    „Wie hättest du anders

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