Der Derwisch und der Tod
so als hätte ich ihn in die Vergangenheit
oder zu vergessenen Qualen zurückgeführt, aber dieser gespannte Ausdruck
besänftigte sich rasch. Er bestätigte ruhig:
„Ja, ich habe mich verändert. Ich
glaubte an dasselbe wie du, an alles, auf die gleiche Weise wie du, vielleicht
noch fester. Und dann sprach Talib Effendi in Smyrna zu mir: ‚Wenn du siehst,
daß ein junger Mensch zum Himmel strebt, pack ihn an den Beinen und zieh ihn
auf die Erde.’ Und er zog mich auf die Erde. Er schimpfte mich aus: ‚Dir ist bestimmt, hier zu leben, also leb auch hier! Und leb so schön wie möglich, aber
so, daß du dich nicht schämen mußt. Und laß es eher darauf ankommen, daß Gott
dich einmal fragt: Warum hast du das nicht getan?, als daß er dich fragt: Warum
hast du das getan?’"
„Und was bist du jetzt?"
„Ein Vagabund auf breiten
Landstraßen, wo ich gute und schlechte Menschen treffe, mit denselben Sorgen
und Nöten wie hier, denselben Freuden über ein bißchen Glück wie überall."
„Was geschähe, wenn alle deinen Weg
einschlügen?"
„Die Welt wäre glücklicher.
Vielleicht."
Er schien den Kreis des Gesprächs
schließen zu wollen.
„Und jetzt kümmert dich nichts mehr.
Ist das alles, was du erreicht hast?"
„Nicht einmal das hab ich
erreicht."
Ich saß und sprach, mit immer
geringerer Aufmerksamkeit, immer geringerem Interesse, viel hatte ich von
seiner Beichte erwartet und nichts erhalten. Er war ein Einzelfall. Beinahe ein
Sonderling, vielleicht auch ein kluger Mensch, der seine Überlegungen nicht
verrät, oder ein Unglücklicher, der sich den Trotz zur Schutzwehr macht,
freilich muß man dazu sehr schwach oder sehr stark sein, ich aber bin weder das
eine noch das andere. Die Welt hält uns in festen
Banden – wie soll man sie zerreißen? Und wofür? Und auf welche Weise kannst du
leben, ohne zu glauben, da es dir doch angewachsen ist wie deine Haut, da es
dein Ich ausmacht? Wie kannst du sein ohne dein Ich?
Und dann dachte ich an meinen
Bruder, daran, wohin ich aufgebrochen war. Daran, daß ich nicht allein zu
bleiben wagte.
„Ich bin gekommen, dir für dein
Geschenk zu danken."
„Mir wär's lieb, wenn du ohne Grund
gekommen wärst. Nur zum Plaudern – ohne Anlaß, ohne Gegenstand."
„Seit langem war ich nicht so
aufgeregt wie gestern abend. Gute Menschen sind ein Glück auf dieser
Welt."
Das war eine Liebenswürdigkeit, die
weder den, der sie sagte, noch den, der sie hörte, verpflichtete. Doch ich
erinnerte mich an den gestrigen Abend, und mir schien, als hätte ich ganz
ehrlich gesprochen, ja vielleicht noch zu wenig gesagt. Ich fühlte den Wunsch,
mehr zu sagen, einem Bedürfnis gerecht zu werden, das sich immer stärker in
mir regte, den Wunsch, mich ganz von Wärme und Herzlichkeit erfüllen zu lassen.
Umsonst versuchte Hasan, mich durch sein Lachen aufzuhalten, es war jetzt
nicht möglich. Ich klammerte mich an ihn wie an einen Anker, gerade jetzt, in
diesem Augenblick, brauchte ich ihn, und es war nötig, daß er mir Führer sei –
der beste. Ich sagte ihm, ich würde schon morgen, vielleicht noch heute für
meinen Bruder alles tun, was ich vermöchte. Daß ich glaubte, im Recht zu sein,
und daß ich überall, wohin ich nur gelangen könnte, Gerechtigkeit fordern
wolle. Vielleicht würde es nicht leicht sein, es schien mir sogar gewiß,
vielleicht würde es auch Schwierigkeiten geben (ich spürte sie schon: heute
morgen hatte mich der Muselim nicht empfangen wollen, man hatte mir dreist
gesagt, er sei nicht da, obwohl er vor meinen Augen sein Amt betreten hatte),
vielleicht würde ich mich selber in Gefahr bringen. Und das sei es, eben darum
sei ich heute zu ihm gekommen, ich fühlte, daß er Anteil nehme an meinen
Dingen, und das hatte ich ihm – ohne etwas anderes als menschliche Worte zu
verlangen – sagen wollen, um meiner selbst willen.
Was ich ihm sagte, war die Wahrheit,
eine ungewöhnliche innere Wahrheit, die mich auch hierhergezogen hatte,
obgleich ich sie sogar vor mir selbst erst jetzt, in seiner Gegenwart,
aussprach. Als befände ich mich auf einem Weg voll mörderischer Gefahr, zu
einer tödlichen Schlacht, so blickte ich jetzt auf den einzigen Freund, der
zugleich mit dem Unglück erschienen war, damit das Unglück nicht vollkommen
sei, und obschon er mir nicht helfen konnte, auch nicht zu helfen brauchte, war
in mir ein tiefes, nicht klar bewußtes Drängen, ihn mir zu erhalten. Vielleicht
kam mir erst jetzt, vor diesem Mann, der mir aufmerksam, still und
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