Der Derwisch und der Tod
besteht von jeher und für alle Zeit, und es kann nicht aufwallen um jedes winzigen Todes willen. Er war es,
der das gesagt hatte – bitter, mit einem anderen Sinn, nicht gläubig. Ich aber
spürte den Wunsch, mich zu diesem Gedanken zu erheben, auch wenn mein eigenes
Glück in Frage stand.
Ich wollte es ihm nicht erklären –
er hätte es nicht begriffen, weil er anders dachte als ich –, daß ich die
Befreiung meines Bruders durch eine vorbereitete Flucht oder Bestechung nicht
annehmen konnte, denn noch glaubte ich an die Gerechtigkeit. Sollte ich zu der
Einsicht gelangen, daß es auf dieser meiner Welt keine Gerechtigkeit gibt, so
bliebe mir nur, mich zu töten oder mich gegen diese Welt zu wenden, die dann
nicht mehr die meine wäre. Hasan freilich würde sagen, das sei eine
Derwisch-Denkweise, blinde Hingabe an eine starre Regel, darum sagte ich
nichts, aber ich wußte nicht, wie ein Mensch anders leben könne.
Vielleicht kann er?
Ich blickte auf einen Zweig mit
aufbrechenden Knospen, unter dem Fenster. Es war Zeit für mich, zu gehen.
„Der Frühling", sagte ich.
Als ob er das nicht selbst wüßte.
Gewiß wußte er es nicht so wie ich. Es fiel mir gar nicht ein, daß ihm das
Wort, das ich gesprochen hatte, seltsam erscheinen mochte. Es schien das
Gespräch abgebrochen, den Gedanken abgerissen zu haben, doch so war es nicht.
Ich dachte einfach daran, wie sich
der weiße und rosige Überfluß ins Endlose fortgesetzt hatte, heute morgen, vor
langem, viele lichte Schatten unter den Bäumen hatte es gegeben, die neu
erweckte Erde hatte geduftet, und ich dachte daran, wie schön es wäre, mit der
Derwisch-Schale in der Hand in die Welt zu wandern, geführt von der einen, der
einzigen Sonne und vielleicht einem Fluß, einem Weg, ohne anderen Wunsch als
den, nirgends zu sein, sich an nichts zu binden, mit jedem Morgen eine andere
Gegend zu sehen, sich mit jeder Nacht auf einem anderen Lager auszustrecken,
keine Verpflichtung, kein Bedauern, kein Erinnern zu haben, dem Haß erst dann
seinen Lauf zu lassen, wenn ich aufgebrochen und er sinnlos geworden war, die
Welt von mir wegzurücken, indem ich sie durchwanderte. Aber nein, ich dachte es
nicht, ich schrieb nur mir selbst den Wunsch zu, den Hasan vor ein paar Minuten
ausgesprochen hatte, er schien mir so schön, so alles lösend, daß ich ihn mir
aneignete und einen ganzen Augenblick lang dachte, er sei der meine. Im Innern
vermerkte ich ihn sogar, mit seinen Worten. Er entsprach meinem unruhigen Umherirren
am Morgen, jetzt, nachträglich, verband ich ihn damit, als wäre er am Morgen
schon vorhanden gewesen. Er war es aber nicht, das weiß ich genau.
Ich erzählte Hasan von der Begegnung
mit dem Knaben nach der Erniedrigung, die mir der Muselim bereitet hatte.
„Warum hast du ihn
angesprochen?" erkundigte sich Hasan lachend.
„Er sah aus, als hätte er ein
reines, heiteres Gemüt."
„Dir war schwer zumute, du warst auf
der Flucht vor Qualen, du wolltest vergessen, wie dich die Sejmenen vom
Muselimsamt weggejagt hatten, und da, in solch einem Augenblick der ganz
persönlichen Bedrücktheit bemerkst du Knaben mit reinem Gemüt und denkst an
künftige Verteidiger des Glaubens. Ist es so?"
„Wenn mir schwer zumute ist, habe
ich deshalb aufgehört, das zu sein, was ich bin?"
Er wiegte den Kopf, ich wußte nicht,
ob er mich auslachte oder bedauerte.
„Sag, daß es nicht so ist, ich bitte
dich, sag, daß dir dein Bruder wichtiger ist als alles, sag, daß du alles zum
Teufel schicken wirst, um ihn zu retten – du weißt, daß er unschuldig
ist!"
„Ich tue alles, was ich kann."
„Das genügt nicht. Laß uns mehr
tun!"
„Sprechen wir nicht mehr
davon!"
„Gut. Wie du willst. Ich hoffe, du
wirst es nicht bereuen."
Er war beharrlich. Ich weiß nicht,
warum er sich in ein so gefährliches und unsicheres Unternehmen einlassen
wollte: die Rettung eines Menschen zu betreiben, den er kaum kannte; merkwürdig
war es auch deshalb, weil es allem widersprach, was ich über ihn wußte. Aber er
log nicht, er bot nicht nur Worte, weil er etwa meine Entschlossenheit, nicht
darauf einzugehen, sah – nein, er würde wirklich handeln, ohne einen
Augenblick zu zögern.
Vielleicht könnte jemand denken, ich
wäre von seiner Bereitschaft, sofort zu helfen, gerührt gewesen, hätte das
Angebot seines außergewöhnlichen Opfers mit Tränen in der Kehle aufgenommen.
Aber das tat ich nicht. Keineswegs. Anfangs wünschte ich, sein Angebot sei
nicht ehrlich gemeint, ein
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