Der Derwisch und der Tod
einen
Augenblick nach, betroffen, erschreckt von dieser Hast, sah mich in der
Gefahr, in ein böses Unternehmen einbezogen zu werden. Ich lehnte ab, ohne den
wahren Grund zu nennen, ihn auch nicht genau kennend.
„Dann würde er der Schuldige
bleiben."
„Dann würde er am Leben bleiben!
Wichtig ist es, den Menschen zu retten."
„Ich will mehr retten: die
Gerechtigkeit."
„Verlieren werdet ihr: du, er und
die Gerechtigkeit."
„Wenn es denn so geschehen soll, so
wäre es Gottes Wille."
Diese meine Worte, ruhig und gefaßt
gesprochen, konnten traurig, bitter, hilflos sein, aber sie waren aufrichtig.
Etwas anderes blieb mir nicht. Ich weiß nicht, warum sie ihn so
herausforderten, als wären sie Dreck, den ich ihm ins Gesicht geworfen hätte.
Vielleicht deshalb, weil ich ihn von seinem Höhenflug zurückrief, ihn hinderte,
edel zu sein. Irgendwo in ihm entzündete sich Feuer, anders als eben, noch
unmittelbarer, näher, seine Augen blitzten glutheiß, in seine Wangen stieg
dichte Röte, mit der linken Hand faßte er die rechte, als hinderte er sie am
Ausholen. Selten sah ich solch aufgewühlte Kraft und solchen Zorn. Ich
erwartete einen wütenden Ausfall, Toben und Fluchen. Seltsamerweise schrie er
nicht, dabei wäre es mir lieber gewesen, er sprach dumpf, unnatürlich leise,
die Stimmbänder dämpfend – auf einmal war er so aufgeregt, daß er sich auch
äußerlich ganz veränderte. Zum ersten Male hörte ich ihn hitzig sprechen, das
sprechen, was er im Zorn dachte, weder die schweren Worte noch die Kränkungen
mildernd.
„O armer Derwisch! Kann es je
geschehen, daß ihr nicht nach Derwisch-Art denkt? Handeln nach Bestimmung, die
Dinge nach Gottes Willen be stimmen, die Gerechtigkeit und die Welt retten!
Wie kommt es, daß ihr an den großen Worten nicht erstickt! Kann denn nicht
etwas auch nach menschlichem Willen geschehen und ohne den Drang, die Welt zu
retten? Laß die Welt in Ruhe, um Gottes willen, sie wird ohne eure Besorgtheit
glücklicher sein. Tu etwas für einen Menschen, dessen Vornamen und Namen du
kennst, der zufällig auch dein Bruder ist, damit er nicht unschuldig zugrunde
geht im Namen der Gerechtigkeit, die du verteidigst. Wäre der Tod deines
Bruders ein Unterpfand dafür, daß morgen die anderen Menschen im Paradiese
leben – gut, dann mag er sterben, es wäre ein Opfer, das die Menschen aus ihrer
Not erlöste. Aber so wird es nicht kommen, alles wird bleiben, wie es
ist."
„Dann will es Gott so."
„Hast du nicht ein anderes Wort, ein
menschlicheres?"
„Nein. Und ich brauche es
nicht."
Er trat ans Fenster, blickte zu der
Himmelshälfte über der Stadt und über den umgebenden Bergen hinauf, als suche
er auf dieser weiten, freien Fläche Antwort oder Beruhigung, und dann schrie er
plötzlich jemanden auf dem Hofe an, fragte ihn, ob das Pferd beschlagen sei,
und trieb ihn an, endlich die Musikanten zu bestellen.
Sinnlos; schwerlich würde ich ihn
ganz kennenlernen. Kaum hatte ich eine Seite an ihm entdeckt, tauchte plötzlich
eine andere auf, eine unbekannte, und ich wußte nicht, welche die richtige
sei.
Als er sich umwandte, war er wieder
ruhig, doch sein Lächeln war nicht heiter, wie sonst.
„Entschuldige", sagte er und
gab sich Mühe, unbeschwert zu erscheinen, „ich war grob und dumm. Das ist
Viehhändlerart. Ein Glück, daß ich nicht noch angefangen habe zu fluchen."
„Schon gut. Darauf kommt es jetzt
nicht an."
„Vielleicht habe ich gar nicht
recht. Vielleicht ist deine Art sinnvoller. Man hält sich besser an himmlische
Maßstäbe als an die gewöhnlichen, alltäglichen. Mißerfolge beunruhigen dich dann
nicht, immer rechnest du mit der endlosen Zeit, die Rechtfertigung liegt in
Gründen außerhalb deiner. Ein persönlicher Verlust erscheint weniger wichtig.
Auch der Schmerz. Auch der Mensch. Auch der heutige Tag. Alles erstreckt sich
ins endlos Dauernde, das gesichtslos und gewaltig, verschlafen träge und
feierlich gleichgültig ist. Wie das Meer – es kann nicht die zahllosen Tode
bedauern, die in ihm unablässig geschehen."
Ich schwieg. Was hatte ich zu sagen?
Diese aufgeregten Worte enthüllten Unsicherheit und Zweifel, deren Ende sich
nicht absehen ließ. Wie hätte ich bestreiten oder billigen sollen, da nicht
einmal er selber wußte, woran er war? Nichts als Zweifel. Ich zweifle nicht.
Ich meine in der Tat, daß Gottes Wille oberstes Gesetz, daß die Ewigkeit Maß
unseres Wirkens und daß der Glaube wichtiger ist als der Mensch. Jawohl, das
Meer
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